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http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/zhg1984/0232
Neues Schrifttum

Konstanzer Trichter. Lesebuch einer Region. Hrsg. von Jochen Kelter. Mit Zeichnungen von Christian
Kühnel. Konstanz: Verlag des Südkurier 1983. 212 S.

Um den »Stoff, aus dem die Heimat ist«, geht es dem Herausgeber dieses »Lesebuchs einer Region«
(S. 9). Der »Konstanzer Trichter« vermittelt vor allem Einsichten in die Geschichte der Bodenseeregion,
der mehr als die Hälfte des Bandes gewidmet ist. Daneben finden sich Gedichte, Essays und Zeichnungen.

Den Reigen der regionalhistorischen Beiträge, die im Mittelpunkt dieser Besprechung stehen, eröffnet
der Uberlinger Geschichtslehrer Oswald Burger. Er berichtet essayistisch und ergreifend über den
grausamen Alltag in der Überlinger Außenstelle des KZ Dachau, wo über 800 Häftlinge unter unmenschlichen
Bedingungen Höhlen ausschachten mußten, in denen Rüstungsunternehmen bombensicher untergebracht
werden sollten. - Vier Beiträge von Regionalhistorikern der Universität Konstanz beschäftigen sich
mit einem Jahrhundert politischer Kulturgeschichte am Bodensee. Reinhold Reith zeigt, wie sich in den
Konstanzer Gasthöfen des Vormärz und in ihrem Publikum politische und soziale Gegensätze ausdrückten
(S. 57). Eingeschoben sind Hinweise auf den »Blauen Montag«, d. h. das Verlängern des arbeitsfreien
Wochenendes als Anspruch selbstbewußter Handwerksgesellen (S. 58ff.) - Vergleiche zwischen der
Gasthauskultur in Konstanz heute und vor hundert Jahren zieht Gert Zang in seinem Beitrag über »das
Wirtshaus als Ort der politischen Kultur«. Den Bedeutungsgewinn und die Funktionserweiterung der
Gasthöfe (Ausgabe von Speisen) in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts stellt er in den Zusammenhang
der wirtschaftlichen Anstrengungen und politischen Emanzipationsversuche des liberalen Bürgertums. Die
Winshäuser wurden zu Zentren bürgerlicher Öffentlichkeit. Damals waren die Gasthäuser Bestandteile
unterscheidbarer politischer Heimaten. Heute geht es fast ausschließlich um hohen Umsatz und schnellen
Gewinn. - Ein bemerkenswertes Beispiel neuer, kritischer Regionalgeschichtsschreibung liefen Werner
Trapp in seinem Beitrag »Konstanz im Juli 1914-die lokale Gesellschaft auf dem Weg in den 1. Weltkrieg«.
Er verknüpft die lokale mit der nationalen Entwicklung und kann dadurch Prozesse verständlich machen,
die ansonsten zumeist nur abstrakt behauptet werden. Weiter gelingt es ihm zu zeigen, daß die »große«
nationale Geschichte aus vielen »kleinen« örtlichen Geschichtsverläufen besteht, in denen lokalspezifische
Momente eine große Rolle spielen. Trapp veranschaulicht, daß die Kriegsbegeisterung 1914 weniger
spontane Stimmung als Ergebnis einer langangelegten »umfassenden Militarisierung des gesellschaftlichen
Lebens« im Kaiserreich war (S. 81). Der Hinweis auf Ängste und Gleichgültigkeit im liberalen Bürgertum
und in der Arbeiterschaft bei Ausbruch des Krieges (S. 83 f.) korrigiert das immer noch vorherrschende Bild
allgemeiner Kriegsbegeisterung. - Durch eine umfassende Auswertung der damals vielfältigen Konstanzer
Presse gelingt es Dieter Schott am Beispiel eines »Konstanzer Wochenendes in der Weimarer Republik« die
politischen >Lager< der zwanziger Jahre zu konturieren. Er schildert die komplexen kulturellen Bestrebungen
und fragt abschließend, ob nicht heute »die Eigenaktivität der Menschen untergraben und ihre
Konsumhaltung verstärkt« sei (S. 105). Schotts Beitrag zeigt, welche großen Erkenntnismöglichkeiten eine
gründliche Zeitungsanalyse als regionalgeschichtliche Methode bietet. - »Innenansicht einer Stadt« von
Klaus Erdmenger liefert einen Beitrag zur neuesten Zeitgeschichte. Der Autor verknüpft seine subjektiven
Erfahrungen aus acht Jahren Gemeinderatsarbeit in Konstanz (von 1972 bis 1980) mit dem Versuch, diese
auf allgemeine Entwicklungen zu beziehen. - Zwei Beiträge beschäftigen sich mit der noch kurzen
Konstanzer Universitätsgeschichte. In einem schillernden Artikel über »Fremde am Bodensee« beschreibt
Jochen Kelter das denk- und merkwürdige Zusammentreffen von radikalen Studenten, Reform-Professoren
und mittelstädtischer Behäbigkeit Ende der sechziger Jahre an den Ufern des Sees. Die »Fremden« begaben
sich damals auf den mühsamen Weg von arroganter Distanz zu kritischem Sicheinlassen. Einer der Reform-
Professoren, Peter Hartmann, beschäftigt sich mit dem schmerzlichen Scheitern des Konstanzer Reformmodells
und dem Zurückstutzen der Universität auf Normalmaß mit dem Ergebnis, daß sich die Universität
Konstanz heute von anderen Hochschulen nur noch dadurch unterscheidet, daß sie kleingeraten ist und
nicht mit Traditionen aufwarten kann.

Auch das vorliegende Buch gehört ein Stück weit zur Universitätsgeschichte. Sein Erscheinen in einem
Konstanzer Zeitungsverlag wäre ohne die Existenz der Universität nicht vorstellbar. Daß vor dem
Erscheinen, wie die Vorbemerkung andeutet, einige »Fährnisse« zu überwinden waren, zeigt, wie
schwierig es auch heute noch den als Fremde an den See Gekommenen gemacht wird, sich auf diese Region
einzulassen. Daß sie dennoch nicht aufgeben, stimmt hoffnungsvoll.

Darmstadt Alfred Georg Frei

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