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http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/zhg1986/0119
Der Wandel des preußischen Staatsgedankens

bedurfte zu Beginn der 60er Jahre dieser Prozeß nicht der Förderung von Staats wegen
mehr, da der Kreis fortschrittlich gesinnter Unternehmer nicht nur im Westen Preußens und
in Berlin, sondern auch in Schlesien so stark gewachsen war, daß sich die Industrialisierung
fortan nahezu >automatisch< vollzog24. Zwar war der Hohenzollernstaat noch zu Beginn der
zweiten Hälfte des Jahrhunderts in erster Linie Agrarland, das nach England und Belgien vor
allem Getreide exportierte25; es war jedoch bei der fortschreitenden Liberalisierung auf
ökonomischen Gebiet und stürmisch vorwärtsdrängenden Expansion des Fabrikwesens
abzusehen, wann etwa diesem das wirtschaftliche Ubergewicht im Hohenzollernstaat zufallen
würde.

Doch schon Mitte der 60er Jahre mußte Bismarck im Zeichen des zermürbenden Verfassungskonflikts
sich zur nationalen, kleindeutschen Politik und zu einer Annäherung an die
bisher erbittert bekämpften Liberalen entschließen. Nach dem Sieg über Österreich im
Sommer 1866, durfte der preußische Ministerpräsident im Zuge seiner nationalen Politik
darauf bauen, daß die deutschen Mittelstaaten auf wirtschaftliche Zusammenarbeit mit dem
stärker industrialisierten Preußen angewiesen waren, und den Zollverein erneuern. Obwohl
die preußische Regierung den Wünschen der liberalen Führer entgegenkam, blieben diese
von der wirklich politischen Macht fern. Mit Hilfe des Dreiklassenwahlrechts behaupteten
sich noch die feudalen und agrarisch-konservativen Kräfte im Landtag und in Regierung,
Hof und Verwaltung. Auf der anderen Seite war nicht mehr zu übersehen, daß trotz des
monarchisch-aristokratischen Stils in Potsdam und Berlin, der liberale Kurs auf ökonomischem
Gebiet triumphierte. Die Gewerbeordnung des Norddeutschen Bundes vom 22. Juni
1869 eröffnete wirtschaftspolitisch für das Deutschland nördlich des Mains eine neue Ära.
Die Erfüllung freiheitlicher Grundforderungen wie Freizügigkeit, Freiheit der Berufswahl
und Gewerbefreiheit sorgten dafür, daß der Staat vorerst aus seiner obrigkeitlichen Funktion
im Bereich der Wirtschaft verdrängt wurde. Im personellen Bereich kam dieser bilaterale
Kurs durch die Ernennung des - wirtschaftspolitisch - liberalgesinnten Rudolf Delbrück
zum Chef des Bundeskanzler— seit 1871 - Reichskanzleramtes zum Ausdruck. Dieser
hervorragende preußische Beamte wurde in der Reichsgründungszeit die rechte Hand des
Kanzlers und steuerte im wesentlichen selbständig die Wirtschaft, wobei die Interessen des
Reichs, nicht nur Preußens für ihn im Vordergrund standen26. So sehr Delbrücks Gutachten
bzw. Entwürfe auf ministerieller Ebene Gewicht besaßen und auch seine Reden vom
Reichstag mit Respekt entgegengenommen wurden, so wenig hat dieser tüchtige Bürokrat
und Fachmann versucht, politische Vordergrundspolitik zu treiben.

Die Äußerungen der konservativen Parlamentarier bis zu alten Gegnern Bismarcks aus
diesem Lager wie Ludwig von Gerlach27 und erst recht des so streng borussisch gesinnten
Kaisers und Königs Wilhelms I. lassen keinen Zweifel aufkommen, wie sehr diese der
Mediatisierung des Hohenzollernstaates im Reich von 1871 widerstrebten. Wenn diese
Kräfte sich gegen den Verlust der Identität Preußens und gegen das Aufgehen im neumo-
disch-bourgeoisen Kaiserstaat mit seinen veränderten politischen Gewichten hinsichtlich der
Verfassung und den eigenen Problemen des süddeutschen Raumes wehrten, so scheinen
diese Äußerungen zunächst nicht ganz verständlich zu sein, wenn man weiß, wie ernsthaft
Bismarck auch nach 1871 die preußische >Pfahlwurzel< als Rückgrat und Kraftzentrum des
neuen Reiches bezeichnet hat. Da man seit dem Zweiten Weltkrieg in besonderem Maße das
kleindeutsche Reich bis 1918 nur als Großpreußen kritisch betrachtet, so wird die Assimilierung
Preußens an den neuen Nationalstaat eher bagatellisiert. Immerhin kann man sich

24 U. P. Ritter (wie Anm. 19) S. 1084.

25 H.Böhme (wie Anm.23) S. 15.

26 Ebd. S.211.

27 Vgl. von der Revolution zum Norddeutschen Bund. Aus dem Nachlaß von Ernst Ludwig v. Gerlach
. Hrsg. v. H.Diwald: I.Teil Tagebuch 1848-66, S.480f. und 482ff. über Bismarcks Wendung zu
den Liberalen.

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