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http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/zhg1986/0120
Eberhard Naujoks

darauf berufen, daß der Kanzler es verstanden hat, den preußischen Einfluß in den entscheidenden
Fragen der Verfassung, in der Verwaltung, im Bundesrat nicht immer formell, aber de facto
zu wahren28.

Um jedoch den offenen oder latenten Widerstand des alten - konservativen - Preußentums
gegen die neuen Verhältnisse seit 1866/71 voll zu verstehen, ist es angebracht, sich in einem
knappen Überblick die Breite und Bedeutung des Neuen exemplarisch vor Augen zu führen,
das - neben der Eingliederung Süddeutschlands - auf dem Gebiet der Wirtschaft, der
Bevölkerungsvermehrung, aber auch von Technik und Verkehr in überraschender Vielfalt die
Zeitgenossen beeindruckte. Nicht durch Zahlen oder Tabellen zu fassen waren allerdings die
Veränderungen im Bewußtsein der Bevölkerung seit dem Sieg über Frankreich und der
politischen Einigung der deutschen Länder und damit das in den zeitgenössischen Zeugnissen
sich vordrängende deutsche Selbstgefühl. Die 5 Milliarden französische Kriegsentschädigung
erwiesen sich zum Teil als ein Danaer-Geschenk. Zwar ermöglichte diese Summe den deutschen
Ländern eine rasche Zurückzahlung der Staatsschulden und Kriegsanleihen, ermutigte jedoch
die bisherigen Staatsgläubiger ihre Kapitalien in der jetzt voll beschäftigten Industrie und
speziell im Eisenbahnbau anzulegen. Bis zur Krise von 1873/74 trug noch die weitverbreitete
Vorstellung zur >Gründermanie< bei, daß dem - ökonomischen - Liberalismus die Zukunft
gehöre und daß die Harmonie der Interessen schließlich dem allgemeinen Wohl zugutekommen
würde. Waren doch im Jahre 1870 die bisherigen - staatlichen - Einschränkungen der
Gewerbefreiheit gefallen, so daß auch die Bildung von Aktiengesellschaften erleichtert wurde.
Es war deshalb kein Wunder, daß sich die Zahl dieser Gesellschaften binnen drei Jahren
verdoppelte. Ein >letzter< Triumph des Gedankens des Freihandels war die Beseitigung der
Eisenzölle, an denen die deutsche Schwerindustrie im Hinblick auf die Überlegenheit der
britischen Konkurrenz bis kurz vor die Gründerkrise festgehalten hat.

Da allzu viele dem Boom der Nachkriegs jähre vertrauten und glaubten, in der einzigartigen
Konjunktur rasch verdienen zu können, wurden oft ohne Bedenken Aktiengesellschaften und
nicht fundierte, sogar unreelle Geschäfte gegründet. Der analoge rasante Aufschwung auf dem
Weltmarkt ermutigte selbst Skeptiker29. Daß die Ausschaltung der behördlichen Kontrolle ihre
Schattenseite sehr bald zeigen würde, hatten die >Gründer< kaum erwartet. •

Die Freiheit auf ökonomischen Gebiet und die neue Einheitlichkeit im Reiche gewährte
manche Vorteile: Nachdem noch bis zum Jahre 1871 sechs verschiedene Währungssysteme
nebeneinander bestanden hatten, bedeutete die Einführung der Mark- bzw. Pfennigwährung im
Reich eine Vereinfachung und Sicherheit. Das galt entsprechend für die Festsetzung von
gleichem Maß und Gewicht, auch für die Freizügigkeit, die jetzt durch den Ausbau des
Transport- und Verkehrswesen, vornehmlich durch die umfassenden Anlagen für die Eisenbahn
der Industrie Aufträge verschaffte und über die schnelle Förderung des Schienennetzes die
Warenzirkulation erleichterte. Obwohl Pferdegespann und Droschke noch viele Jahrzehnte
über die Jahrhundertwende hinaus ihre Bedeutung behielten, so begann die Eisenbahn doch der
Straße Konkurrenz zu machen. In dem Jahrzehnt nach 1870 hat der Bahnbau sogar zunächst ein
Viertel der Nettoinvestitionen der deutschen Volkswirtschaft beansprucht, bis Ende der 80er
Jahre dieser Satz auf 5,7% langsam abfiel30. Entsprechend hatte die Streckenlänge der
Eisenbahnen im Reich von 19000 auf knapp 43 000 km zugenommen, so daß sich etwa die

28 H. Goldschmidt: Das Reich und Preußen im Kampf um die Führung. Von Bismarck bis 1918. S. 6/12;
H.Triepel: Unitarismus und Föderalismus im Deutschen Reich. Tübingen 1907. S.34.

29 H.Böhme (wie Anm.23) S.413; K.E.Born: Deutschland als Kaiserreich (1871-1918). In: Handbuch
der europäischen Geschichte, hrsg. v. Th. Schieder, Bd. 6, S. 206ff.; Statistisches Bundesamt (Hrsg.),
Bevölkerung und Wirtschaft 1872-1972. Stuttgart-Mainz 1972. S. 90 (Fläche und Bevölkerung); W. Treue:
Wirtschafts- und Sozialgeschichte Deutschlands im 19.Jahrhundert. In: B.Gebhardt, Handbuch der
Deutschen Geschichte. Stuttgart 81960. Bd. 3 S.398f.

30 G. Palmade: Das bürgerliche Zeitalter. In: Fischer Weltgeschichte, Bd. 27. Frankfurt, 1974. S. 103;
H.U. Wehler: Das deutsche Kaiserreich 1871-1914. München 41976. S.43.

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