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http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/zhg1986/0125
Der Wandel des preußischen Staatsgedankens

erfuhr und im Kontrast zur modernen Wirklichkeit eine romantische Verklärung der Anfänge
des Hohenzollernstaates mit konservativ altertümlichen Zügen zu beobachten war46. In
spürbarer Abwehrhaltung gegen manche sogenannte Auflösungserscheinungen in Staat und
Gesellschaft tradierte man den Staatsgedanken im Beamtentum und betonte den Wert des
unbedingten Gehorsams, ebenso aber auch den Grundsatz, daß die Person hinter der Sache und
hinter dem Wirken für das allgemeine Wohl zurückzutreten habe. »Dienen als freiwillige
Unterordnung unter das Ganze erschien jetzt echt preußisch.« Von dieser im Hohenzollern-
staat des 18. Jahrhunderts begründeten und auch noch im 19. Jahrhundert beachteten dienstlichen
Ethik und vom Preis preußischer Zuverlässigkeit ging noch bis ins frühe 20. Jahrhundert
hinein eine »ungewöhnlich werbende Kraft« aus. Trotz des bereits weit verbreiteten Mißtrauens
dem Obrigkeitsstaat gegenüber behauptete sich die Forderung nach »preußischer, also unbedingter
Pflichterfüllung«47. Zweifellos hatte die Skepsis gegenüber dem Wandel in der
modernen Zeit und die gleichzeitige Besinnung auf quasi unveränderliche, spezifisch altpreußische
Werte zu einer Verengung des damaligen Preußenbildes geführt. Was heute Otto Büsch
fordert, daß sämtliche Elemente, die in der Geschichte des Hohenzollernstaates bestimmend
waren, in einem »spezifisch-preußischen Mischungsverhältnis«48, im Bild vom preußischen
Staatswesen auftreten sollten, wurde in diesen Jahrzehnten vor dem Ersten Weltkrieg nicht
erfüllt. Neben die Bejahung des Staates und der militärischen Gewalt, gehörten einst auch
Reformwille, nicht zuletzt technologische und ökonomische Fortschrittlichkeit. Seit der Zeit
der Befreiungskriege, des Deutschen Zollvereins bis in die Regierungsjahre Wilhelms II. hatte
gerade Preußen mit seinen Industriezentren vom Saar- und Ruhrgebiet über Mitteldeutschland
bis Oberschlesien, auch einen unbestreitbar modernen Akzent behauptet. Das Eintreten
Wilhelms II. beim Streik der Bergleute im Ruhrgebiet im Jahre 1889 und der anfängliche
Wunsch >Arbeiterkaiser< zu werden bis zum technischen Interesse, vornehmlich für den
Schiffsbau, waren zeitgemäße Entsprechungen zur älteren Tradition der Hohenzollernkönige.

Wenn dennoch die Abwehrhaltung gegen die Modernität im Norden und Osten Deutschlands
besonders erstarkte, so resultiert diese aus der existenziellen Bedrohung gerade der alten
preußischen Gebiete infolge der Metamorphose der Bevölkerungsstruktur und der Verschiebung
der ökonomischen und politischen Gewichte. Wir haben schon oben einige Zahlen für das
Wachstum der Industrie, der Einwohner der Städte, der Verkehrsanlagen und über die
Differenzierung des Fabrikwesens im Zusammenhang mit der Entwicklung der Naturwissenschaften
und der Technik angeführt. Für Preußen wurde die Zunahme von - im Jahre 1871 -
24 Millionen auf schließlich - im Jahre 1912 - 41 Millionen besonders bedeutsam, weil die
Bevölkerungsvermehrung in den einzelnen Teilen des Staates höchst verschieden sich verteilte.
Infolge der lang anhaltenden Krise der ostdeutschen Landwirtschaft seit den Importen
billigeren amerikanischen Getreides übten die sich rasch vergrößernden Industriezentren mit
günstigeren Erwerbsmöglichkeiten auf die stagnierenden ländlichen Regionen ihre Anziehungskraft
aus. Wir können von einer Völkerwanderung sprechen, wenn sich schon bis zum
Jahre 1907 - neben einer Million Auswanderer in die Neue Welt - nicht weniger als
3/2 Millionen Landarbeiter und deren Angehörige sich in die Großstädte Mittel- und Westdeutschlands
- meist preußische Gebiete - begaben. Die Bindung an die Gutswirtschaft wurde
seit dem späten 19. Jahrhundert nicht mehr selbstverständlich hingenommen. Die ländlichen
Knechte von gestern brauchten in der neuen industriellen Heimat nicht mehr den »verhaßten
Klang der Gutsglocke« zu hören und genossen die relativ größere Freiheit der Fabrikarbeiterschaft
, zumal auch höhere Barlöhne lockten49.

46 U. Scheuner (wie Anm. 42) S. 24.

47 O. Graf zu Stolberg-Wernigerode (wie Anm. 45) S. 175 ff.

48 O. Büsch (wie Anm. 3) I 6.

49 Preußen. Zur Sozialgeschichte eines Staates. Katalog der Berliner Ausstellung. Darstellung in Quellen
bearb. v. Brandt Bd. 3, S.222; V. Hentschel: Preußens streitbare Geschichte 1594-1945. Düsseldorf
1980. S.303/306.

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