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http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/zhg1986/0126
Eberhard Naujoks

Politisch führten diese Veränderungen der Bevölkerungsstruktur die Arbeiterschaft mehr
und mehr zur Sozialdemokratie, während man es im Bereich der großen Güter des Ostens
verstand, dem Eindringen dieser Partei erfolgreich Widerstand zu leisten. Im Schutz des
Dreiklassenwahlrechts und einer seit 1871 demographisch überholten Wahlkreiseinteilung
bestimmten etwa 20% der Wähler aus den Reihen der besitzenden Bevölkerungen die
Zusammensetzung des preußischen Landtags mit rund zwei Drittel der Mandate, während die
70-80 %ige Majorität der III. Wählerklasse mit etwa einem Drittel der Abgeordneten unterrepräsentiert
blieb. Bei dieser >Teilung< des Hohenzollernstaates in einen industriell und politisch
fortschrittlichen Westen bzw. in einen agrarisch-konservativen Osten trug der preußische
Staatsgedanke vornehmlich östlich der Elbe noch seine >klassischen Züge<. Graf Westarp
bestätigt dies in seinem Erinnerungswerk »Konservative Politik« auch für die letzten Jahre des
Kaiserreichs, wenn er konstatiert: Der Berufsparlamentarier stand vor der Revolution von 1918
niedrig im Kurs. Der konservative Parteiführer war noch in der monarchischen Anschauungsweise
groß geworden, daß die eigentlich schöpferische Arbeit in der Staatspolitik«, aber nicht
bei den Abgeordneten liege. Westarp unterstrich auch für seine Person das Fortleben der
borussischen Auffassungen in der höheren Bürokratie durch die Bemerkung, wie wichtig ihm in
der Verwaltung der politisch konservative Gedankengehalt, in den er sich eingelebt hatte,
gewesen sei. Familienüberlieferung und militärische Erziehung im königlich preußischen
Staatsdienst hatten beim Studium des heimischen Verwaltungsrechts Westarps »preußisches
Staatsbewußtsein vertieft und... (ihn) zum überzeugten Anhänger der Hohenzollernmonarchie
in der von Bismarck geschaffenen monarchisch-konstitutionellen Regierungsweise werden
lassen«50.

Unübersehbar blieb auch für diesen konservativen Beamten der monarchische Charakter
des preußischen Staates bestimmend, während dessen konstitutionelle Bindung an das Volk ihm
weniger wichtig war und auch damals tatsächlich von geringerer Bedeutung blieb. Das lag nicht
zuletzt an der relativen Schwäche der deutschen und preußischen Parteien im Staatsganzen, weil
gerade durch die Betonung des monarchischen Prinzips »der Einfluß des Parlaments auf die
Regierung« ein verhältnismäßig geringer war. Otto Hintze räumte sogar in seiner Betrachtung
im Jahre 1911 ein, daß eine verfassungsmäßige Vergrößerung ihres Einflusses »im politischen
Sinne erziehend auf die Parteien wirken würde«, da sie versuchen würden »regierungsfähig zu
werden«. Im Hinblick auf den bedeutsamen Wahlerfolg der Sozialdemokratie bei der
Reichstagswahl von 1912 ist Hintzes Überlegung insofern aufschlußreich, weil er von einer
solchen Verstärkung der Stellung des Parlaments nicht nur den Sieg des revisionistischen Flügels
in der SPD, sondern auch eine Uberprüfung der bisherigen Stellung zur Monarchie für möglich
erachtete. Eine solche »allmähliche Demokratisierung des Staatslebens« erschien wenige Jahre
vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges als ein vielleicht »unabwendbares Geschick der modernen
Welt«, für Hintze freilich kein erstrebenswertes Ziel. Vorläufig war für den Verfassungshistoriker
»das monarchische Prinzip... mit der ganzen Struktur des Staatswesens von Preußen wie im
Reiche derartig verwachsen, daß es ohne eine völlige Umwandlung derselben, wie sie wohl nur
durch eine Revolution bewirkt werden könnte, nicht durch das Prinzip der parlamentarischen
Regierung ersetzt werden kann«51.

Das junkerliche und bürokratische Preußen war seit 1879 durch Schutzzölle verteidigt
worden. Es wehrte sich um so mehr gegen deren Herabsetzung in den Caprivischen
Handelsverträgen, da der Nachfolger des Reichsgründers mehr den Interessen der breiten
Konsumentenschichten in den Städten entgegenkam. Zum ersten Mal wagte ein Reichskanzler
die Wirtschafts-, Steuer- und Sozialpolitik den Interessen von Industrie und Arbeiterschaft
entsprechend zu orientieren. Umso härter bekämpfte der agitatorisch höchst aktive >Bund der
Landwirte< diesen ungewohnten Kurs und begrüßte den die Agrarier mehr begünstigenden

50 K. Graf von Westarp: Konservative Politik im letzten Jahrzehnt des Kaiserreichs. Berlin 1935.1 18 f.

51 O. Hintze: Das monarchische Prinzip und die konstitutionelle Verfassung. In: Moderne preußische
Geschichte II 740.

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