Zur ersten Seite Eine Seite zurück Eine Seite vor Zur letzten Seite   Seitenansicht vergrößern   Gegen den Uhrzeigersinn drehen Im Uhrzeigersinn drehen   Aktuelle Seite drucken   Schrift verkleinern Schrift vergrößern   Linke Spalte schmaler; 4× -> ausblenden   Linke Spalte breiter/einblenden   Anzeige im DFG-Viewer
http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/zhg1986/0138
Gerhard Schulz

Die russische Politik verfolgte in Kongreß-Polen seit 1831 eine zunehmende, nach dem
Aufstand von 1863 äußerste Härte und bis 1905 eine stetig weiter greifende Prävention. Sie
bemühte sich, mit eiserner Strenge und totaler Konsequenz, der nationalen Propaganda, die von
den polnischen Emigranten in Westeuropa und später in Amerika20 ausging, jede Wirkung zu
nehmen. In Russisch-Polen gab es schließlich keine polnische Sprache als Amts-, als Unterrichts
-, als offizielle Verkehrs- und Geschäftssprache mehr. Das Polnische blieb der privaten
Sphäre vorbehalten, auf Dorfgemeinschaft, Kirche und auf den Religionsunterricht beschränkt.
Die Verwaltung der zehn polnischen Gouvernements, die seit 1874 dem Generalgouverneur in
Warschau unterstanden, war zentralisiert und vollständig russifiziert. Die Kommunalverwaltung
hörte in Polen fast völlig auf; zwei Drittel aller polnischen Städte wurden 1870 zu
Dorfgemeinden degradiert. Die Universität in Warschau war russisch. Die römisch-katholische
Kirche unterstand mitsamt ihrem Eigentum unmittelbar dem Innenministerium in Petersburg.
Die Geistlichkeit wurde vom Staat besoldet; jeglicher unmittelbare Verkehr mit der Kurie war
ihr untersagt. Der historische Primas von Polen und Litauen, Fürst und Interrex des
Königreiches, der Erzbischof von Gnesen, hatte seinen Sitz in Preußen, wo seit 1821 das
Erzbistum Posen-Gnesen bestand und von wo aus er keinen kirchenadministrativen Einfluß auf
Russisch-Polen mehr ausüben konnte, wenn auch die bedeutenden Persönlichkeiten im Amte
des Erzbischofs nach wie vor über großes Ansehen verfügten. Die Russifizierung Polens schien
am Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts nahezu vollständig. Sie wäre vielleicht
definitiv gewesen, hätte nicht eine bedeutende polnische Literatur und nationale Publizistik
innerhalb einer wachsenden Emigration, darunter auch die unaufhaltsame volkstümliche
Wirkung des in Amerika, Westeuropa und in Afrika stets polnisch schreibenden Henryk
Sienkiewicz21 in seinen breit angelegten historischen Romanen wie in seinen realistischen
Zeitschilderungen, die Aufmerksamkeit und den Beifall von Millionen gefunden.

Außerhalb der Grenzen des russischen Reiches lebte Polen weiter. Im preußisch-polnischen
Gebiet wurden polnische Zeitungen und polnische Vereine gegründet, im österreichischen
Kronland Galizien und Lodomerien alte Zentren des geistigen und wissenschaftlichen Lebens,
die Universitätsstädte Krakau und Lemberg, neu belebt22. Unter der österreichischen Krone sah
sich die polnische Bevölkerung - trotz starker Gegenströmungen - im Besitze allmählich sich
festigender Rechte, so daß sich ein eigenständiges polnisches Schulwesen und ein starkes
polnisches Beamtentum herauszubilden vermochte. Aus seiner aristokratischen Spitze erwuchsen
für die Krone Österreichs tätige bedeutende Administratoren, Diplomaten und Staatmänner
, die, neben dem deutschsprachigen und neben dem tschechischen Element, ein eigenes
Gewicht besaßen. Alfred Graf Potocki-Pilawa23, Kasimir Ritter v. Grocholski, Graf Agenor
Gohichowski24 und Graf Badeni25 ragen aus verschiedenen Gründen weit heraus, aber auch
Leo v. Bilinski, dessen Ministerlaufbahn in der Donaumonarchie mit dem Amte des gemeinsamen
k. u. k. Finanzministers (1912-1915) endete und sich 1919 in der Republik Polen, unter
Paderewski, in dem entsprechenden Amte fortsetzte. Wir wollen es hier bei den bekanntesten

20 Neuerdings hierzu Lech Trzeciakowski : Les Etats-Unis d'Amerique dans la presse polonaise de la fin
du XIX' siecle et du debut du XXE. In: Pologne et les Affaires Occidental. 1979. S. 1-14.

21 Seit 1876, Nobelpreis für Literatur 1905. In französischer Sprache erschien eine anklagende Dokumentation
zu unserem Thema von Sienkiewicz: Prusse et Pologne. 1909.

22 Hierzu und zum Folgenden auch Schulz : Deutschland und Polen vom Ersten zum Zweiten Weltkrieg
(wie Anm. 18), mit weiteren Literaturangaben.

23 Während des deutsch-französischen Krieges Ministerpräsident und Verteidigungsminister
(1870-1871), vorher Ackerbauminister (1867-1870).

24 1895-1906 Minister des Kaiserl. und Königl. Hauses und des Äußeren.

25 Ministerpräsident und Innenminister 1895-1897, Urheber der Badenischen Sprachenreform für Beamte
in Böhmen, die den Gebrauch der Landessprache neben dem Deutschen für alle Beamten einführte, aber
auch anderer moderner Gesetze, z. B. zum Wahlrecht. B. wurde durch deutsch-nationalistische Demonstrationen
in Wien zum Rücktritt veranlaßt.

136


Zur ersten Seite Eine Seite zurück Eine Seite vor Zur letzten Seite   Seitenansicht vergrößern   Gegen den Uhrzeigersinn drehen Im Uhrzeigersinn drehen   Aktuelle Seite drucken   Schrift verkleinern Schrift vergrößern   Linke Spalte schmaler; 4× -> ausblenden   Linke Spalte breiter/einblenden   Anzeige im DFG-Viewer
http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/zhg1986/0138