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http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/zhg1986/0144
Gerhard Schulz

auswirkte43. Noch nach dem Ersten Weltkrieg befanden sich innerhalb der beim Deutschen
Reich verbliebenen Ostgebiete - den preußischen Ostprovinzen sowie den beiden Ländern
Mecklenburg - weit mehr als die Hälfte des gesamten land- und forstwirtschaftlich genutzten
Grundvermögens in den Händen des Großbesitzes und hiervon wieder die Hälfte, ein Viertel
der gesamten Fläche, in den Händen von Eigentümern, die jeweils mehr als 1000 ha genutzten
Bodens besaßen.

Bereits in der Vergangenheit hatten vielfältige ungünstige Konsequenzen zu starken Belastungen
geführt. Infolge des häufigen, schon für das ganze 19.Jahrhundert in Ostdeutschland
charakteristischen Güterverkaufs und Besitzwechsels war es zu einer stetig wachsenden Immobiliarkreditverschuldung
des Grundbesitzes - durch Stehenlassen der Restkaufgelder oder hypothekarische
Belastungen nach Erbteilungen - gekommen. Die Konsequenzen waren von kaum
geringerer Auswirkung als der fortwährende Bevölkerungsabfluß nach dem Westen. Solange die
Landwirtschaft große Reinerträge erzielte und solange das Verlangen nach Landerwerb für eine
ständige Nachfrage nach Grundbesitz auch bei steigenden Bodenpreisen ausreichte, blieb der
wachsende Anteil des unproduktiven Besitzkredits am stetig zunehmenden Immobiliarkredit
ohne greifbare nachteilige Folgen44. Doch sinkende Erträge und zurückgehende Bodenverkaufswerte
mußten zwangsläufig zu einer Uberbelastung führen, die die Verzinsung der kreditierten
Kapitalien gefährdete. Schon im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts folgte jedem neuen Einbruch
in die Agrarpreise eine fatal fallende Bodenrente bei unaufhaltsam wachsender Bodenbelastung.
Dies war keine völlig neue Erscheinung in der preußischen Geschichte. Nach dem siebenjährigen
Krieg waren ähnliche Folgen eingetreten. Sie führten zur Gründung der Landschaften, ständisch
verankerter Agrarinstitute der Rittergutsbesitzer mit Staatshilfe. Aber an der letzten Jahrhundertwende
muß dann schon von einer permanenten Agrarkrise gesprochen werden, noch ehe eine
akute Absatzkrise oder Produktionskrise einsetzte. Hochbelastete Güter waren nur noch schlecht
verkäuflich. Seit Ende des 19. Jahrhunderts kam es zu einer steten Häufung der Zwangsversteigerungen
, die wohl ausreichend Land für Bauern und Siedler, mithin für die Zwecke der
Ansiedlungskommission und für Siedlungsgesellschaften bereitstellten; aber es fanden sich eben
nicht die Siedler in ausreichender Zahl. Doch polnische Genossenschaften und Bauernvereine
traten ein und erwarben Ländereien, die sie in polnische Hände brachten. Polnische Bauern waren
bereit, nachzurücken, während zunehmende Teile der deutschen Bevölkerung es vorzogen, in den
Westen zu gehen.

Dem herrschenden Bewußtsein der Zeit sind die Ausmaße des großen Bevölkerungsabflusses
in den Westen nicht entgangen; auch kühne historische Vergleiche wurden angestellt. Sie
waren gut verständlich. Von einer »Bewegung, die eine gewisse Ähnlichkeit mit der Völkerwanderung
hat..., eine Bewegung von Osten nach dem Westen« sprach der Reichskanzler und
preußische Ministerpräsident Graf Caprivi im Preußischen Abgeordnetenhaus45. Man kann
sich die Industrialisierung in der Weise, vor allem in der Schnelligkeit, in der sie in den letzten
Jahrzehnten des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts voranschritt, namentlich im Ruhrgebiet
, kaum vorstellen, wenn sie nicht den gewaltigen Menschenstrom - nicht nur von
Deutschen, sondern auch von Polen - zu ihrer Verfügung gehabt hätte, der sich aus der östlichen
Agrarzone in die Städte und industriellen Zentren des Westens ergoß. Der industrielle Westen
lebte und erstarkte von dem Bevölkerungsüberschuß des flachen Landes, vor allem Ostdeutsch-

43 Ausführlicher Schulz: Deutschland und Polen vom Ersten zum Zweiten Weltkrieg (wie Anm. 18),
Anm. 17; neuerdings Ders.: Deutschland am Vorabend der Großen Krise (wie Anm. 102) S. 149-155,
167-171, auch zum Folgenden.

44 Vgl. M. Weyermann: Zur Geschichte des Immobiliarkreditwesens in Preußen mit besonderer
Nutzanwendung auf die Theorie der Bodenverschuldung. Karlsruhe 1910; ferner die einleitenden
Feststellungen von Hermann KißLER: Der deutsche Immobiliarkredit seit der Inflation. In: Probleme des
deutschen Wirtschaftslebens. Erstrebtes und Erreichtes, hrsg. vom Deutschen Institut für Bankwissenschaft
und Bankwesen. Berlin/Leipzig 1937. S.200.

45 Stenographische Berichte...: Haus der Abgeordneten, Sitzung am 2.Mai 1891, Bd.IV, S.2106.

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