Zur ersten Seite Eine Seite zurück Eine Seite vor Zur letzten Seite   Seitenansicht vergrößern   Gegen den Uhrzeigersinn drehen Im Uhrzeigersinn drehen   Aktuelle Seite drucken   Schrift verkleinern Schrift vergrößern   Linke Spalte schmaler; 4× -> ausblenden   Linke Spalte breiter/einblenden   Anzeige im DFG-Viewer
http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/zhg1986/0158
Gerhard Schulz

größeres Gewicht als Polen. An antisowjetische Kombinationen dachte man praktisch so gut
wie gar nicht, häufig aber an eine Ubereinstimmung »auf der Grundlage des gemeinsamen
deutsch-russischen Interesses an dem Zurückdrängen Polens auf seine ethnographischen
Grenzen«, wie es Brockdorff-Rantzau eindrücklich formuliert hatte. Die wirtschaftliche Lage
zwang Polen, einzulenken. Nach dem blutigen Staatsstreich Pilsudskis im Mai 1926 und der
folgenden innerpolitischen Stabilisierung, die stark dämpfend auch auf die nationale Agitation
der Parteien wirkte, bemühte sich Außenminister Zaleski (1926-1932), auf Pilsudskis Veranlassung
, um eine Besserung der Beziehungen zu Deutschland. Sogar der Gedanke einer Grenzrevision
im Korridor-Bereich wurde über Mittelsmänner an Stresemann herangetragen, um
Verhandlungsbereitschaft zu signalisieren98. Doch auch diese, in ihrer Bedeutung schwer
bestimmbaren Bemühungen änderten auf längere Sicht sehr wenig. Von der amtlichen
deutschen Außenpolitik wurde Polen kaum je als wirklich ernsthafter Partner angesehen,
sondern im Bezugssystem des größeren Rahmens lediglich unter dem Gesichtspunkt der
deutschen Revisionspolitik betrachtet, die eine Veränderung der deutschen Ostgrenzen niemals
auszuschließen bereit war.

VIII.

Von der äußeren, im Rahmen der europäischen Konstellation sich bewegenden Polenpolitik
Deutschlands müssen wir hier noch einmal abschließend auf die innere deutsche Ost- und
Polenpolitik und auf die eingangs begründeten wirtschafts- und sozialgeschichtlichen Strukturprobleme
bzw. Schwächen zurückkommen, die durch die Folgen des Friedens von
Versailles, namentlich durch den sogenannten Korridor und die Abtrennung Ostpreußens noch
verstärkt wurden.

Für die meisten Politiker der Weimarer Nationalversammlung war die Bevölkerungsschwäche
auch der verbliebenen ostdeutschen Grenzgebiete evident. Die Konsequenz, zu der sie
gelangten, haftete allerdings im engsten Sinne an der vorherrschenden Stimmung und gewissen
Situationsmomenten der ersten Nachkriegszeit und an dem Empfinden, einer noch ungeklärten
Zukunft entgegenzugehen. Unter diesen Voraussetzungen hielten viele die Vorstellung einer
neuen Massenansiedlung im Osten und einer breiten Streuung kleineren bäuerlichen Grundbesitzes
für realistisch. Diese aus dem frühen 20. und späten 19. Jahrhundert übernommene
Vorstellung lag auch außerhalb Deutschlands den Agrarreformen in Ostmittel- und Südosteuropa
zugrunde; ihre Durchführung vernachlässigte überall die Frage der Produktivität wie der
Wirtschaftskraft der kleinen Betriebe in verhängnisvoller Weise.

Der bloße Rückgriff auf die Vorkriegsintentionen der Gesellschaft zur Förderung der
inneren Kolonisation und der Versuch, ihrem Programm wie seiner Durchführung unter den
gegebenen Verhältnissen eine neue, größere Dimension zu geben, verfehlten alsdann die
wirklich einsetzenden Entwicklungen. Unter dem nachwirkenden Eindruck der Kriegsbewirtschaftung
, des Lebensmittelmangels und angesichts der zunächst noch fehlenden Welthandelsverbindungen
schien fürs erste der Wunsch nach Steigerung der landwirtschaftlichen Produktion
begründet. Ob jedoch eine Intensivierung der ländlichen Wirtschaftsweise durch Kleinparzellierung
und durch Kleinlandwirte erwartet werden durfte, blieb eine offene und viele
Betrachter irritierende Frage, für die im letzten jedoch die pessimistischen Urteile über die
industrielle Zukunft Deutschlands den Ausschlag gaben. Dies erklärt den kühnen Gedanken,
die Landflucht kurzerhand durch staatliche Maßnahmen in eine »Stadtflucht« zu wenden und
nunmehr eine »starke Binnenwanderung... von der Industrie in die Landwirtschaft« herbeizuführen
". Das entsprechend großzügig gedachte Reichssiedlungsgesetz 10°, das die Nationalver-

98 Lippelt (wie Anm. 84), S. 370 f.

99 Stenogr. Berichte der Verhandlungen der Verfassunggebenden Deutschen Nationalversammlung,
Bd. 326, S.174, Bd. 327, S. 1170. Bd. 330, S.3476, sowie an anderen Stellen.

100 RGBl. 1919, S.1429; abgeändert 1923 und 1926 (RGB1.I 1923, S.364; RGBl.I 1926, S.398).

156


Zur ersten Seite Eine Seite zurück Eine Seite vor Zur letzten Seite   Seitenansicht vergrößern   Gegen den Uhrzeigersinn drehen Im Uhrzeigersinn drehen   Aktuelle Seite drucken   Schrift verkleinern Schrift vergrößern   Linke Spalte schmaler; 4× -> ausblenden   Linke Spalte breiter/einblenden   Anzeige im DFG-Viewer
http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/zhg1986/0158