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http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/zhg1986/0159
Preußen, Deutschland und die polnische Frage

Sammlung am gleichen Tage annahm, an dem sie der Weimarer Reichsverfassung zustimmte,
jedoch mit einer noch größeren Mehrheit, die von den Deutschnationalen bis zu den
Sozialdemokraten reichte, begrüßte der Zentrumsabgeordnete Adam Stegerwald als Lösung
eines »der größten innenpolitischen Probleme«, sofern es gelänge, »zwischen 25 und 30
Millionen Menschen auf dem Lande anzusiedeln«101.

Aus derartigen Plänen ist allerdings nur sehr wenig erwachsen. Eine der Größe von
Zielsetzung und Erwartung entsprechende Durchführung des Reichssiedlungsgesetzes scheiterte
aus vielen Gründen, bereits an der im Grundsätzlichen ungeklärten Finanzierungsproblematik102
. Mit der wirtschaftlichen Stabilisierung nach der Inflation verflüchtigte sich aber auch
der Industriepessimismus, versiegte das geringe Reservoir jener Siedlungswilligen, die sowohl
bereit als auch geeignet waren, dem angekündigten Weg der Binnenwanderung in die
verbliebenen Ostgebiete zu folgen. Dort blieb im Grundsätzlichen trotz mancher Anstrengungen
alles beim Alten, begann aber mit der industriellen Stabilisierung und weltwirtschaftlichen
Liberalisierung eine rasch um sich greifende verschärfte Krise der Landwirtschaft. Sie traf die
auf dem Lande ansässige konservative ostdeutsche Grundbesitzerschicht am härtesten, die aber
nicht mehr, wie vor dem Zusammenbruch, mit Königtum und Staat verbunden war, sondern in
Opposition zur Republik stand und ihren Einfluß auf das eng geflochtene Netz der agrarischen
Organisationen im Osten mit größter Entschiedenheit geltend machte. Die Provinzen Ostpreußen
, Pommern, Grenzmark, Schlesien und Teile Ostbrandenburgs bildeten Horte der rechten
Opposition gegen alle Regierungen der Republik. Lediglich die Kreise mit einer katholischen
Bevölkerungsmehrheit in Mittel- und Oberschlesien und im Ermland, mit entsprechendem
Zentrumsanhang, durchbrachen die sonst vorherrschende Monotonie dieses Bildes.

Aber unabhängig von dem in Ostdeutschland weithin populären politischen Protest, der
auch Verfassungsrecht und politisches System berührte, was hier nicht verfolgt werden kann,
blieb das unleugbare wirtschaftliche Faktum, daß die von Getreide-, Kartoffel- und Rübenbau
lebende Wirtschaft Ostmitteleuropas in ständigem Rückgang begriffen und daß dies im Grunde
nicht mehr aufzuhalten war. Der Preisverfall in der Phase der ersten Nachkriegsentspannung
und der Wiederherstellung weltwirtschaftlicher Beziehungen, unter dem die gesamte europäische
wie auch Teile der außereuropäischen Landwirtschaft litten103, traf die ostdeutsche
Landwirtschaft mit geringer Verzögerung, aber dann nicht minder hart als das benachbarte
Polen. Beide agrarwirtschaftlich orientierte Zonen gerieten in den Schatten der industriell und
exportwirtschaftlich bestimmten weltwirtschaftlichen Konjunktur. Unabhängig von den nie
überbrückten Spannungen und den gegenseitigen Verletzungen des ideellen wie materiellen
nationalen Besitzstandes, unter denen die Bevölkerung der Grenzgebiete am stärksten litt, war,
auf beiden Seiten der unbefriedigenden Grenze, das weltwirtschaftliche Schicksal Polens wie
das der ostdeutschen Agrargebiete, aufs Ganze gesehen, durch eine - allerdings uneingestan-
dene - Gemeinsamkeit der Betroffenheit charakterisiert.

Mit dieser Feststellung fällt vielleicht auch ein etwas milderes Licht auf das Urteil über die
Entwicklung der deutsch-polnischen Wirtschaftsbeziehungen. Der industriell-kommerzielle,

101 Stenogr. Berichte (wie Anm. 99), Bd. 326, S. 266.

102 Boyens (wie Anm. 42), Bd. I, VII. Abschnitt; ergänzend Gerhard Schulz: Staatliche Stützungsmaßnahmen
in den deutschen Ostgebieten. Zur Vorgeschichte der »Osthilfe« der Regierung Brüning. In: Staat,
Wirtschaft und Politik in der Weimarer Republik. Festschrift für Heinrich Brüning. Berlin 1967. S. 162,
170-182; leicht verändert wieder abgedruckt: Schulz: Das Zeitalter der Gesellschaft. Aufsätze zur
politischen Sozialgeschichte der Neuzeit. München 1969. S. 252-298. Zu dem gesamten im Nachfolgenden
behandelten Komplex ausführlich G. Schulz: Deutschland am Vorabend der Großen Krise (Zwischen
Demokratie und Diktatur. Verfassungspolitik und Reichsreform in der Weimarer Republik, Bd. 2). Berlin
1987. S. 167-207.

103 Max Sering: Internationale Preisbewegung und Lage der Landwirtschaft in den außertropischen
Ländern (Berichte über Landwirtschaft N.F., 11.Sonderheft). Berlin 1929. S.25ff.; Wilhelm Abel:
Agrarkrisen und Agrarkonjunktur. Eine Geschichte der Land- und Ernährungswirtschaft Mitteleuropas
seit dem hohen Mittelalter. 2. Aufl. Hamburg/Berlin 1966. S.261.

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