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Wolfgang Schaffer
Optimal gelingen aber konnte dies nur durch eine Lehrerin. Während nämlich in den
Knabenschulen die Verstandesbildung die vorherrschende ist, muß bei den Mädchen das
Hauptargument auf die Bildung des Herzens und Veredelung des Gemütes gerichtet werden.
Dies kann aber nie durch einen Lehrer zustandegebracht werden19. Immer wieder wurde auch
der Vorbild-Charakter einer Lehrerin betont, der allein es gelingen könne, zu ihren heranwachsenden
Geschlechtsgenossinnen ein Vertrauens- und verständnisvolles Verhältnis aufzubauen
.
Marmons Pläne beschränkten sich indes von Anfang an nicht darauf, etwa nur die
Erziehung der weiblichen Jugend in Empfingen in die Hände von Schulschwestern legen zu
wollen, sondern er stellte sich vor, darüber hinaus mit deren Hilfe auch noch eine Erziehungsanstalt
für verwahrloste Kinder ins Leben zu rufen. Damit sollte wenigstens den
extremsten Auswirkungen sozialen Elends in Empfingen, von Marmon in Hütten der Armut
lokalisiert, gewehrt werden. Diese Notwendigkeit umschrieb der Pfarrer selbst mit einem
drastischen Beispiel: Ich suchte dieser Tage eine solche Hütte des Elendes auf, wo eine ledige
'Weibsperson mit vier Kindern wohnt. Ich fand die Thüre verschlossen, denn die Mutter war
auf dem Bettel abwesend. Da ich nicht zur Thüre hineinkommen konnte, so öffnete ich das
Fenster und welch ein grauenhafter Anblick bot sich mir darf - Beinahe ganz nackt lagen die
unglücklichen Kinder in einem Haufen schmutzigen Strohes, die Stube sah einem Stalle gleich,
da war kein Bett, keine Bettstatt zu erblicken, kein Spahn brannte bei der grimmigen Kälte im
Ofen, um die halberfrorenen Kinder zu erwärmen, kein Mensch kümmerte sich um sie20.
Mit großer Zielstrebigkeit schritt der Empfinger Pfarrer voran. Er trat zunächst an das im
westfälischen Paderborn gelegene Mutterhaus der Schwestern der christlichen Liebe heran,
hatte dort aber keinen Erfolg21. Schon Mitte Juni 1855 konnte er jedoch einen mit dem
Rottenburger Mutterhaus der Schulschwestern abgeschlossenen Vertrag der Regierung zur
Genehmigung vorlegen. Dieser sah vor, die 24jährige Kloster-Aspirantin und Schulamtskan-
didatin Clara Ungelehrt zunächst für ein Jahr die weibliche Jugend des Ortes unterrichten zu
lassen22. Zu ihrer Unterstützung und Bedienung sollte ihr eine weitere Person zur Seite
gestellt werden. Honorar und Verpflegung oblagen der Gemeinde Empfingen. Zur Einrichtung
des geplanten Hauses für verwahrloste Kinder hatte Marmon darüber hinaus ein
geeignetes Gebäude gekauft und aus eigenen Mitteln 800 Gulden bar angezahlt; die weitere
Finanzierung von 900 Gulden hoffte er durch Spenden aufzubringen.
Auf diesen Grundlagen gingen die nächsten Monate ins Land und schon die ersten
Schulprüfungen zeigten den großen Erfolg Clara Ungelehrts, die in drei Klassen 120 Mädchen
zu unterrichten hatte. Nach nur fünf Monaten war es ihr gelungen, den extrem lückenhaften
Wissensstand der Kinder deutlich zu verbessern, wenngleich auch deren Disziplin noch zu
wünschen übrig ließ. Rohheit, Frechheit, Schamlosigkeit, Lüge, Falschheit und Verstellungskunst
waren nach Marmons Einschätzung immer noch dominierend. Dennoch glaubte er sich
19 Ebd. - Es sei auch verwiesen auf die eindeutigen Bemerkungen, die Pfarrer Lanz in seiner Schutzschrift
in Sachen der Schulschwestern-Anstalt zu Empfingen am 27. 8. 1860 an die Regierung richtete (BAF
B 5/248): Die Mädchen sollen naturgemäß eine ganz andere Erziehung erhalten als die Knaben. Der
Knabe soll für das öffentliche Lehen, das Mädchen hingegen für das Haus erzogen werden. Bei der
Methode, die gegenwärtig in den meisten Schulen besteht, kommt nun aber nichts heraus, als daß die
Mädchen leider auch für das öffentliche Leben erzogen werden. Es gibt bald keinen Unterschied mehr.
Unsere Mädchen sind ebenso laut und lärmend geworden wie die Knaben; sie schreien, fluchen und
schelten wie diese - und wenn sie 20 Jahre alt sind, könnte man sie ebenso gut zu Knechten, wo nicht zu
sagen, zu Soldaten brauchen.
20 Ebd.
21 StA Sig Ho 235 XI C 198.
22 StA Sig Ho 235 XI C 198. - Clara Ungelehrt war am 3. 8. 1831 in Augsburg geboren worden und galt
als ausgezeichnete Lehrerin, die darüber hinaus mehrerer Sprachen kundig war. Sie hatte noch keine
Gelübde abgelegt und sollte daher später in das Rottenburger Kloster zurückkehren.
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