Zur ersten Seite Eine Seite zurück Eine Seite vor Zur letzten Seite   Seitenansicht vergrößern   Gegen den Uhrzeigersinn drehen Im Uhrzeigersinn drehen   Aktuelle Seite drucken   Schrift verkleinern Schrift vergrößern   Linke Spalte schmaler; 4× -> ausblenden   Linke Spalte breiter/einblenden   Anzeige im DFG-Viewer
http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/zhg1994-95/0259
Die psychiatrische Abteilung des Fürst-Carl-Landeskrankenhauses in Sigmaringen im »Dritten Reich«

und mit den Händen am Hodensack herumreibe. Zur besseren Überwachung wurde er in die
psychiatrische Abteilung zurückverlegt. Der Wundverlauf war bisher fieberfrei und normal,
bis auf die Bildung des Hämatoms das durch seine Unruhe und infolge des Abreissens des
Verbandes des Reibens am Hodensack wohl entstanden ist. Am 23. war bereits morgens in der
Frühe eine Temperatursteigerung festzustellen. Bei der Revision der Wunde konnte keine
Entzündung festgestellt werden. Durch Spreizung der Operationswunde rechts konnte durch
Druck auf den Hodensack etwas geronnenes Blut ohne Eiter entleert werden. Die Untersuchung
der Lunge lies eine beginnende Lungenentzündung erkennen, durch die leichte Dämpfung
über dem mittleren Teil der rechten Lunge hinten. In der folgenden Nacht trat gegen
Morgen eine Herzschwäche ein, der er erlag4'7.

Gisela Bock, Autorin des umfassenden Buches »Zwangssterilisation im Nationalsozialismus
«, konnte ermitteln, daß vermutlich über 5000 Menschen, davon rund 90 Prozent Frauen,
an den Folgen der Sterilisationsoperation starben. Sie bewertet die Zwangssterilisation als die
erste Phase von Massentötungen48.

Ein Behinderter glaubte, resümieren zu können: Stets hätten die Kranken und Behinderten
Not, Zurücksetzungen, Ausgrenzung, Armengesetze und ähnliches hinnehmen müssen, aber
rassistische Beleidigungen und körperliche Verletzungen fügte ihnen erst das »Dritte Reich«
zu*9.

Für den Abteilungsleiter Dr. Hüetlin bedeutete das Inkrafttreten des Sterilisationsgesetzes
eine erhebliche Umstellung und Mehrbelastung, ganz zu schweigen davon, daß das Vertrauensverhältnis
zwischen Arzt und Patient nachhaltig gestört war. Wir müssen uns dabei jedoch
vor Augen führen, daß der psychiatrische Beruf seit jeher zugleich ärztlich-therapeutische und
ordnungsstaatliche Aufgaben erfüllt. Die Psychiatrie ist bislang nach wie vor Heilanstalt, Asyl
für Randständige und Alkoholiker, Verwahreinrichtung für vermeintlich oder real für sich
oder andere gefährliche psychisch kranke Menschen. Die Rolle des Anstaltsarztes, sogenannte
»Erbschädlinge« habhaft zu machen, betont lediglich einen wesentlichen Auftrag des Psychiaters
: Staatsdiener zu sein, mit besonderer Loyalität zum jeweiligen Regime.

Der Tübinger Klinikleiter Prof. Dr. Gaupp, ein Befürworter der nationalsozialistischen
Rassengesetzgebung, umschrieb 1934 die Aufgaben des jetzt als »Erbarzt« tätigen Abteilungsleiters
so: Wie in allen Irrenanstalten, so bedeutet auch im Landeskrankenhaus in Sigmaringen
das neue Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses eine erhebliche Vermehrung der
Arbeit für den Arzt; vor allem hat dadurch die Schreibarbeit erheblich zugenommen und wird
künftig noch mehr zunehmen. Auch muß die Führung der Krankengeschichten mit Pünktlichkeit
und Gründlichkeit erfolgen. Es müssen namentlich sehr sorgfältige Feststellungen der
Erblichkeitsverhältnisse getroffen werden, weil diese ja in jedem Falle vorliegen müssen, wenn
über die Notwendigkeit oder Berechtigung einer Unfruchtbarmachung Entscheidung getroffen
werden mußi0.

Der Versuch seitens Dr. Hüetlin, Teile des Arbeitsaufwandes auf das Gesundheitsamt
abzuwälzen, scheiterte. Der Druck hatte sich erhöht, nachdem 1936 die »erbbiologische
Bestandsaufnahme« der gesamten Bevölkerung angeordnet worden war. Also hatte Landesdirektor
Maier, der mit Dr. Hüetlin beziehungsweise dem Fürst-Carl-Landeskrankenhaus gut
kooperierte, dem Regierungspräsidenten am 17. L 1938 folgendes geschrieben, das in aller
Ausführlichkeit wiedergegeben werden soll, da darin das erhebliche Ausmaß der zusätzlichen

47 KASXIV Acc. 1993-4 Lfd. Nr. 73. Sterilisierungen am FCL Sigmaringen.

48 Bock (wie Anm. 2). Dies.: Zwangssterilisation im Nationalsozialismus. In: Euthanasie in Hadamar.
Die nationalsozialistische Vernichtungspolitik in hessischen Anstalten. Hg. vom Landeswohlfahrtsverband
Hessen. Kassel 1991. S.75.

49 Helmut Pielasch - Martin Jaedicke: Geschichte des Blindenwesens in Deutschland und in der
DDR. Leipzig 1971. S. 155.

50 StAS Ho. 235 Nr. 133. Schreiben des Tübinger Psychiaters Prof. Dr. Robert Gaupp an den RpdHL
vom 19.7.1934. S.2.

257


Zur ersten Seite Eine Seite zurück Eine Seite vor Zur letzten Seite   Seitenansicht vergrößern   Gegen den Uhrzeigersinn drehen Im Uhrzeigersinn drehen   Aktuelle Seite drucken   Schrift verkleinern Schrift vergrößern   Linke Spalte schmaler; 4× -> ausblenden   Linke Spalte breiter/einblenden   Anzeige im DFG-Viewer
http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/zhg1994-95/0259