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Wolfgang Schaffer
Auf diesem Hintergrund ist die oben angeführte und kaum zur amtlichen Kritik Anlaß
gebende Angabe über die Qualität der Unterbringung zu relativieren. In Anbetracht der im
allgemeinen zu konstatierenden beschwerlichen Lebensverhältnisse der ländlichen Bevölkerung
Hohenzollerns werden auch die geisteskranken Familienmitglieder eher mehr denn
weniger darunter zu leiden gehabt haben.
Parallel zur Familienpflege zeigt allerdings auch die Entwicklung der Anstaltspflege ihre
besonderen Akzente, wie dies die Frequenz der Gesamtzahl verpflegter Irrer im Landeskrankenhaus
Sigmaringen nachweist83 (das obere Feld benennt das Jahr, das untere die Anzahl
der Patienten):
1854
1855
1856
1857
1858
1859
1860
1861
1862
1863
26
36
31
48
47
42
49
50
52
50
1864
1865
1866
1867
1868
1869
1870
1871
1872
1873
56
57
65
51
56
51
56
76
83
76
1874
1875
1876
1877
1878
1879
1880
1881
1882
1883
80
77
77
86
84
78
76
72
69
69
1884
1885
1886
1887
1888
1889
1890
1891
1892
1893
73
76
71
83
80
91
85
89
84
93
1894
1895
1896
1897
1898
1899
1900
1901
1902
1903
98
105
113
114
117
133
133
136
150
150
1904
1905
1906/07
1907/08
1908/09
1909/10
1910/11
1911/12
1912/13
1913,
158
167
167
198
212
200
197
203
200
211
Die Zahlen dokumentieren insgesamt eine gewisse Konstanz der Entwicklung, wobei die
großen Sprünge im Jahre 1857 und 1871 sowie im Jahr 1877 bereits in den zeitgenössischen
Jahresberichten darauf zurückgeführt werden, daß die Fertigstellung neuer Bauten jeweils
einen zeitweiligen Einweisungsschub nach sich zog84. Der insgesamt sehr starke Anstieg der
Zahlen in den Folgejahren wird hier nicht weiter erklärt, dürfte jedoch auf den allgemeinen
Anstieg der Bevölkerung im Regierungsbezirk sowie auf den weiteren Ausbau der Anstalt
zurückzuführen sein. Darüber hinaus dürften sich auch die allgemeinen gesellschaftlichen
Entwicklungen der Kaiserzeit hier niedergeschlagen haben: Die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts
ist gekennzeichnet durch einen forcierten Ausbau der psychiatrischen Infrastruktur,
die sich naturgemäß auch auf die Höhe der Anstaltspopulation auswirkte. Darüber hinaus ist
darauf hinzuweisen, daß der in Preußen zu beobachtende »Irrenboom« am Ende des 19. und
Anfang des 20. Jahrhunderts sich weniger als ein Problem sozialpathologischer Metastasenbildung
als der bürokratischen Erfassung von Sozialpathologies> darstellt. Seit den 1890er
Jahren verschärfte die Bürokratie in Preußen ihren Zugriff auf das Irrenwesen. Dies gilt für
Preußen in ganz besonderem Maße, in ähnlicher Weise aber auch für die südwestdeutschen
Staaten86. Auf diesem Hintergrund ist auch der »Hospitalisierungsschub« in Hohenzollern
zu sehen.
83 Die Angaben aus den »Aerztlichen Jahresberichten«.
84 Vgl. »Aerztlicher Jahresbericht über das Fürst-Carl-Landesspital zu Sigmaringen im Jahre 1882« S. 3f.
85 Dirk Blasius, Psychiatrische Versorgung in Preußen 1880-1910, in: Ders.: Umgang mit Unheilbarem
. Bonn 1986, S. 57-79, hier S. 63.
86 Vgl. Blasius, Seelenstörung (wie Anm. 4), S. 61ff., bes. S. 78-79.
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