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Casimir Bumiller
Bleiben wir zunächst bei den engeren Ereignissen von 1848 ff. Wenn die Zahl von 1500
Aufständischen in Hechingen am 11. März 1848 stimmt, so verbirgt sich dahinter ein wahrlich
massenhafter Protest, denn da sie in aller Regel auf den Dörfern im Delegationsverfahren
gewählt wurden, vertraten diese Familienväter eine noch weit grössere Anzahl von Menschen
und Familien. Das bedeutet aber, im Märzaufstand verschaffte sich lange aufgestauter
Unmut und tiefe Unzufriedenheit der Gesamtbevölkerung mit den politischen und wirtschaftlichen
Verhältnissen Luft. Eigentlich revolutionären, gewaltsamen Charakter verliehen
dem Hechinger Auflauf aber nur relativ Wenige, die mit Waffen herumfuchtelten und den
Fürsten - vornehmlich verbal - bedrohten. Wie viele unter den 1500 Männern diese Gewaltbereitschaft
aufbrachten, lässt sich indes nicht beziffern. Eine radikale Minderheit prägte jedenfalls
den dramatischen Gesamtcharakter des Tages, der in der Tat zu einem Schicksalstag
der hohenzollerischen Geschichte werden sollte, was alle Beteiligten einschliesslich dem Fürsten
auch so wahrgenommen haben.
Nach meiner Einschätzung, die ich aber vorläufig nur am Beispiel des Dorfes Wilflingen
verifizieren kann, rekrutierten sich die Radikalen und Gewaltbereiten hauptsächlich aus den
sozial Schwachen und Benachteiligten auf den Dörfern3. Schon während des Hechinger Auflaufs
kam es allerdings angesichts der drohenden Eskalation zu einer Spaltung oder jedenfalls
Differenzierung der Bewegung, die die soziale Abstufung im Fürstentum Hohenzollern-
Hechingen in etwa wiederspiegelte: Es gab, was die Formen revolutionären Protestes und
Gewaltbereitschaft angeht, innerhalb der Dörfer tendenziell einen Unterschied zwischen den
sozial Benachteiligten und den besser Situierten. Weiter lässt sich eine Abstufung erkennen
zwischen den ärmeren Dörfern des Unterlandes, die radikaler agierten, und den Orten des
Killertales, die mehr Zurückhaltung zeigten bis hin zu völliger Abstinenz. Und zudem gab es
tendenziell eine Differenzierung zwischen Stadt und Land, wobei die Hechinger Stadtbürger
dem Fürsten mitleidsvoller gegenüberstanden und angesichts der Drohgebärden der radikalen
Landbewohner entsprechend erschrocken regierten.
Dieses Erschrecken über die eigene Courage bzw. über die Drohgebärden der Nachbarn
und Bekannten ist denn auch das Charakteristikum der folgenden Tage und Wochen, ja noch
des gleichen Tages: Stadtbürger begleiteten den Fürsten schützend in Sicherheit. Bei der ersten
Zusammenkunft des Achtundfünfziger Rates am 10. April verlasen Abgeordnete der
Killertalgemeinden Entschuldigungs- und Ergebenheitsadressen an den Fürsten. Letzter Akt
che Bedeutung zukommt. Psycho-Historie bedeutet, dass der Historiker zur Deutung menschlichen
Verhaltens in der Geschichte auf die Hilfe psychologischer Methoden und Theorien zurückgreift. Dabei
bieten sich verschiedene psychologische Theorien an, wo es jedoch um die Erklärung scheinbar widersprüchlicher
oder unverständlicher Handlunsgweisen, Gefühle und Reaktionen geht, wo also unbewus-
ste Strukturen vermutet werden können, besteht eine gewisse Affinität der Psychohistorie zur Psychoanalyse
. Obwohl die Psychoanalyse bei ihren Kritikern unter dem Verdacht steht, eine Individualpsy-
chologie in bezug auf den einzelnen, psychisch kranken Menschen zu sein, hat sie sich längst zu einer
kulturkritischen Methode entwickelt, die im Rahmen einer um die Psychohistorie erweiterten Sozialgeschichte
die kollektiven Prägungen einer Gruppe oder Gesellschaft verständlich machen kann. Damit ist
die enge Beziehung zwischen Mentalitätsforschung und Psychohistorie angedeutet, auch wenn beide
Disziplinen deshalb nicht unbedingt deckungsgleich sind. Die Phänomene der kollektiven Mentalität
sind mehr im »Kopf«, im Bereich bewussten Denkens und Fühlens angesiedelt, sie werden auch eher von
der »Oberfläche« her, also im Sinne kollektiven Einübens erworben, während unsere Charakterstrukturen
eine individuellere Genese unter höherer Beteiligung unbewusster Mechanismen durchlaufen und in
tieferen Schichten unseres »psychischen Apparats« angesiedelt sind. - Zur Literatur, die ich bei meinen
Ausführungen implizit im Auge habe, zählen u.a.: Norbert Elias: Über den Prozeß der Zivilisation.
Soziogenetische und psychogenetische Untersuchungen. 2. Bde. Frankfurt 7/1980; Arthur Mitzman:
Die Offensive der Zivilisation: Mentalitäten, Hochkultur und individuelle Psyche. In: Andreas Ge-
strich u.a. (Hgg.): Biographie - sozialgeschichtlich. Göttingen 1988, S. 29-60.
3 Casimir Bumiller: Wilflingen. Ein Geschichts- und Heimatbuch. Horb a.N. 1994, S. 147-152.
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