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Neues Schrifttum
Mit der Vier-Wälder-Formel behandelt Renate Blickle eine (staats-) rechtliche
Denkfigur im Herzogtum Bayern. Alpen, Schwarzwald, Thüringerwald und Böhmerwald
galten als Grenzen des bayerischen Landrechts von 1346, und sie markierten
den Bannbezirk bei Landesverweisen (S. 131-154). Da diese Festlegung mit den
Grenzen des Herzogtums jedoch keineswegs deckungsgleich war, stellt sich die
Frage nach Anspruch und Durchsetzbarkeit bayerischer Staatlichkeit zwischen
Habsburg (im Westen und Süden) und Böhmen im Osten.
Grenzziehungen zwischen Schwaben und Bayern untersuchen Ferdinand Kramer
und Rolf Kießling. Der Lechrain zwischen Augsburg, Schongau und dem Ammersee
erweist sich als eine seit dem Frühmittelalter von klösterlicher Grundherrschaft
geprägte Zone, für die Heinrich der Löwe Landsberg als Herrschaftszentrum
gründete. Kunsthandwerk und Religiosität ließen wohl seit dem Barock Regional-
bewusstsein entstehen {Kramer, S. 210-227). Die führenden Städte im Leinen- und
Barchentwebereigebiet Ostschwabens versuchten seit dem späten Mittelalter, die
aus ihrer rudimentären Territorialherrschaft herrrührenden Versorgungsprobleme
durch oft weitgespannte Bannmeilenregelungen zu lösen. Sich überlagernde Ansprüche
und auch die Konkurrenz ländlicher Herrschaftsträger ließ dann aber doch
ein System von wirtschaftlicher Kooperation und sozialer Verflechtung städtischer
Oligarchien mit dem umliegenden Adel entstehen [Kießling, hier S. 167 f.).
Was kulturelle Grenzziehungen betrifft, skizziert Walter Hartinger den Paradigmenwechsel
in der Volkskunde der vergangenen Jahrzehnte. Was an „Volkskultur"
lange als autochthon mit der Tendenz zur Lokalborniertheit erschien, erweist sich
heute als ein Ensemble von Werten und Orientierungen, die durch Arbeitsmigration
, durch kirchliche und politische Einflüsse sowie durch kulturellen Stadt-Land-
Transfer stets in Bewegung gehalten wurden (S. 229-240). Elisabeth Schepers zeigt
anhand bayerischer Bettelordnungen die Möglichkeiten und Grenzen, und damit
auch unbeabsichtigte, ja sogar kontraproduktive Effekte frühneuzeitlichen Verwaltungshandelns
auf (S. 241-258). Karin Kellers lesenswerter Beitrag über die adelige
Kavalierstour verdeutlicht die Kultur adeliger Selbstdistanzierung von anderen
Ständen durch demonstrativen (Bildungs-) Konsum, die Einübung des Umgangs
mit den hohen ständischen Ansprüchen angesichts des immer relativ begrenzten
Reisebudgets (S. 259-282). Den Band beschließt die Geschichte der Anne Lee, die
1774 mit acht Anhängern aus Manchester an die amerikanische Frontier auswanderte
. Die maßgebliche Mitbegründerin der zölibatär und unter Wahrung der Gleichheit
der Geschlechter lebenden Shaker-Bewegung überschritt damit nicht nur geographische
Grenzen, sondern auch diejenigen, die „ihr durch die patriarchale Ordnung
der Zeit gesetzt" waren {Anette Völker-Rasor, S. 293).
Immer wieder wird in den Beiträgen der Grenzbegriff problematisiert; immer
wieder wird auf die Spannung zwischen Zentrum und Peripherie, zwischen fron-
tiere als Grenzraum und limite als Grenzlinie (S. 56, S. 82 ff.), zwischen Identitäts-
findung und mehrfachen Loyalitäten in Grenzregionen hingewiesen. Und wiederholt
zeigt sich der Zusammenhang zwischen Kartographie und politischem Interesse
. Das Konzept der Herausgeber, den Stoff in die vier Teilaspekte Geisteswissenschaft
, Grenze und Konstruktion von Räumen, Grenze und Konstruktion kollektiver
Identitäten, schließlich (kulturelle und mentale) Grenzen und Gesellschaft zu
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