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Besprechungen
Empirisch wertet der Verfasser die einschlägigen sozialgeschichtlichen Quellen
von 13 Gemeinden einschließlich der Amts- und Festungsstadt Ziegenhain aus, die er
nach den vollbäuerlichen und taglöhnernden Bevölkerungsanteilen in vier Hauptklassen
mit je zwei Unterklassen differenziert (S. 38 ff.). Der Verfasser weist eine starre
Zweiteilung der Gesellschaft nach (S. 62), die nicht einmal infolge der Bevölkerungsverluste
des Dreißigjährigen Krieges aufgelockert werden konnte. Auch das
Heiratsverhalten zementierte die sozialen Schranken. Wie andernorts vergrößerte
sich deshalb durch das Bevölkerungswachstum und die Krise der landgewerblichen
Leinenproduktion - bis zum Ende 1830 - die Zahl der landlosen Handwerker und
Tagelöhner, während die Zahl der Kleinbauern, die noch die größte soziale Mobilität
nach oben und unten aufzuweisen hatten, absolut wie relativ zurückging. Verschuldung
, Auswanderung und Wanderarbeit der Unterschichten waren die Folge.
Andererseits waren die ländlichen Klassen durch Lohnarbeit, Gesindedienst,
Mietverhältnisse, wechselseitige Hilfeleistungen sowie durch Kirchenbesuch und
- im Kaiserreich - durch Vereinsmitgliedschaft miteinander verwoben. Eine Hauptthese
lautet, daß der frühmoderne Staat mit seinen administrativen, fiskalischen und
militärischen Maßnahmen die ländlichen Klassen langfristig gegen sich vereinigte.
Die Bindung der Unterschichten an den Staat blieb schwach, obwohl dadurch im
19. Jahrhundert in der Allmendfrage „die Überführung der traditionellen Nutzungen
in moderne Eigentumsverhältnisse ... den lokalen Machtverhältnissen überlassen
" blieb (S. 107), wobei die Bauern ihre Interessen in der Regel besser zu wahren
wußten. Die Tradition des Protests gegen den frühmodernen Steuer- und Verwaltungsstaat
transformierte sich stattdessen in Widerstand gegen seine Beamten vor
Ort (S. 133 f.), wie von Friedeburg entsprechend auch in einem Beitrag in der ZHF
von 1996 herausarbeitet. Weiter opponierte die Landbevölkerung gegen die rechtliche
Gleichstellung der Juden (S. 171 ff.), gegen den landsässigen Adel und insbesondere
seinen Waldbesitz (S. 142 ff.). Antietatismus, Opposition gegen die entstehende
Marktgesellschaft und Judenfeindschaft münzten denn auch im Kaiserreich diverse
rechtskonservative und antisemitische Parteien in meist kurzlebige Wahlerfolge um;
und in der späten Weimarer Republik hatte die NSDAP den reichsweit höchsten Zulauf
(S. 31 f., 251 ff., 292 ff.). Antietatistischer Protest artikulierte sich schließlich unter
dem Dach der Kirche und unter Führung einflußreicher Landpfarrer. Die erwerbstätigen
Unterschichten verliehen ihrer durch Eisenbahnbau, Industrie- und
Wanderarbeit (S. 56 ff.) ermöglichten Emanzipation von den Bauern schließlich in
den Kriegervereinen des Kaiserreichs Ausdruck, auf die adelige Privatbeamte und
Staatsdiener keinen bestimmenden Einfluß ausüben konnten (S. 204 ff.).
Die Studie relativiert mutig die Zäsur der napoleonischen Ära und stellt zu Recht
die Grundsatzfrage nach den aus dem absolutistischen Fürstenstaat herrührenden
belastenden Traditionen im säkularen Demokratisierungsprozeß des Deutschen
Reiches. Haben doch bereits Rainer Wirtz, Manfred Gallus und Stephan Rohrbacher
die eigenständige und oft genug illiberale und antisemitische Stoßrichtung
ländlichen Protests zwischen Ancien Regime und Kaiserreich hervorgehoben. Allerdings
scheint bei von Friedeburg das Datensample für derart weitreichende
Schlüsse zu schmal zu sein; die Vergleiche mit Franken und Baden können dieses
Manko kaum beheben. Leider konnte er die 1994 erschienene Dissertation von Paul
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