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Frauenarbeit in der Industrialisierungsphase
Der Tailfinger Pfarrer Kieser klagte 1871 in seinem Bericht zur alljährlichen Kirchenvisitation
, in neuerer Zeit zögen es... bei weitem die meisten hiesigen Mädchen
vor, daheim zu bleiben und mit [...] Nähen einen regelmäßigen und leichten Arbeitsverdienst
zu finden, wobei sie keinen Finger unrein zu machen brauchen, in der warmen
Stube bleiben dürfen, ihren Lieblingsgedanken nachhängen und ungestörter
ihre eigenen Wege gehen können, freilich auch eigentlich nichts lernen als Geld verdienen
und wieder verbrauchen12**. Folgt man den Ausführungen des Gemeindeseelsorgers
, waren für die jungen Mädchen in Tailfingen nun goldene Zeiten angebrochen
.
Die tatsächliche Lebens- und Arbeitssituation von Heim- und Fabrikarbeiterinnen
jener Zeit dürfte weit von den Schilderungen des Pfarrers entfernt gewesen sein.
Doch Klagen dieser Art häuften sich in der Industrialisierungsphase auch an anderen
Orten. Die Geistlichen sahen die christliche Zucht und Ordnung gefährdet, der Tailfinger
Pfarrer fürchtete ein „wachsendes Verderben" infolge des „überhandnehmenden
Fabrikwesens". Vor allem die fabrikarbeitende Jugend bezichtigte er der
„Genusssüchtigkeit" und eines Hangs zum Luxus130. Insbesondere wurde aber auch
beklagt, dass die jungen Frauen meist gar nicht kochen könnten, da schon ihre Mütter
in der Fabrik arbeiteten und sie selbst ebenfalls nach der Schule gleich in die Fabrik
gingen. Die jungen Frauen lernten nicht die Lust und Liebe zum Haushalt, bemerkte
die württembergische Gewerbeinspektionsassistentin 1900 und führte aus: Die
Fälle sind [...] nicht selten, in denen der Mann zu Hause irgendein Handwerk treibt
und dabei die Kinder hütet und Essen kocht, bis die Frau von der Fabrik nach Hause
kommt. Unter den jüngeren Frauen namentlich ist es äußerst selten, dass sie das
Essen selbst kochen. Wo Mann und Frau in der Fabrik arbeiteten, holten sie in vielen
Fällen das Mittagessen aus einem nahen Gasthaus oder gingen gemeinsam dort zum
Essen131.
Nun mögen angesichts der pietistisch-sparsamen Lebensführung der Tailfinger
Bevölkerung Zweifel angebracht sein, ob diese für die Region getätigten Beobachtungen
der Gewerbeinspektorin tatsächlich auch für Tailfingen zutrafen. Pfarrer Kieser
berichtete jedenfalls schon 1871, die Jüngeren würden weniger einfach und gewöhnten
sich an Eiertrinken, Wurst- und Käseessen in den Wirtschaften. 1900 zählte man
in Tailfingen 19 Wirtschaften und Gasthäuser, d. h. auf rund 197 Einwohner kam eine
Wirtschaft132. Diese nicht gerade wenigen Gaststätten müssen auch im sparsamen
129 Pfarrbericht für die Kirchen-Visitation Tailfingen 1871, Landeskirchliches Archiv Stuttgart
, A 29 Nr. 4552. Inzwischen veröffentlicht: Peter Th. Lang (Hrsg.): „Eckig und unpoliert".
Der Visitationsbericht des Tailfinger Pfarrers Adolf Kieser aus dem Jahr 1871. In: Heimatkundliche
Blätter 2002, S. 1315-1319, 1324.
130 Pfarrbericht Tailfingen 1871.
131 Jahresbericht der Gewerbe-Aufsichtsbeamten im Königreich Württemberg für 1900.
Berlin 1901, S. 134.
132 StA Ludwigsburg E 177 BI, Bü 2997. In Ebingen kam in den ersten Jahren der Kaiserzeit
auf 217 Einwohner eine Wirtschaft. Peter Thaddäus Lang: Die „Dreikönigswirtin" von Ebingen
. Schwarzwälder Bote vom 15. März 1997.
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