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http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/zhg2004/0158
Ines Mayer

zigjährige Junggeselle, Landgerichtsrat a.D., und Sonderling, hatte seinen juristischen
Dienst quittiert, um vor dem Städtchen mitten in den Wiesen in seinem kleinen Holzhaus
seinen Liebhabereien zu leben, fernab von den Menschen. Dieses Holzhaus war
eine Welt für sich. Es stand unter einer Eiche, war äußerst einfach gebaut und nach
alter Art mit einem Strohdach bedeckt. Die Kleinstädter und vor allem die Bauern
nannten das Oehmchen deshalb ,Doktor Strohdach'. Neben dem Haus war ein großer
Anger eingezäunt; dort tummelten sich ein Dutzend Geißen aller Lebensalter
und ein halbes Dutzend großer und kleiner Böcke herum20. Ein ähnlich seltsames
Bild bot sich in dem Hofplatz vor dem Haus, wo ständig zahlreiche junge und alte
Hähne miteinander rauften, daß die Federn nur so flogen, während an die dreißig bis
vierzig Hennen und Küchlein diesem edlen Turnier zuschauten. Auch auf der Eiche
neben dem Dach saßen Hühner und Hähne gleich wilden Vögeln und stimmten mit
ihrem Krähen und Gackern in der luftigen Höhe ein seltsames Konzert an. Hinzu
kommt noch ein gutes Dutzend Katzen, Kätzchen und Kater, die auf dem Geländer
der kleinen Holzveranda oder auf den Pflöcken des Wiesengeheges saßen, sich sonnten
und putzten. An Sonntagen aber war es ein beliebter Spaziergang der Hechinger,
mit ihren Kindern diesem Tierpark des ,Doktor Strohdach' einen Besuch abzustatten
und zugleich kostenlos einige ärztliche Ratschläge und homöopathische Kügelchen zu
erhalten. Doktor Strohdach war durch seine märchenhafte Tierliebe bekannt, niemals
tötete er ein Tier, verkaufte sie auch nicht, weil er fürchtete, der Käufer möchte
einen der Hähne oder Böcke schlachten. Außerdem galt er weit und breit als ein
Wunderdoktor. Von nah und fern kamen die Leute, um sich von ihren Leiden oder
den Folgen der Schulmedizin kurieren zu lassen. Niemals nahm Doktor Strohdach
nur einen Groschen für die Behandlung; wohl aber gab er oft Bedürftigen kostenlos
Medikamente seiner eigenen Hausapotheke; wer wollte, konnte Geld in eine große
Blechbüchse werfen: für die Armen! Mehrmals versuchte der Kreisarzt gegen ihn
vorzugehen. Aber die Zahl der Kranken, denen Doktor Strohdach geholfen hatte,
ging in die Tausende. Es hagelte Petittionen [sic!]/#r ihn, es drohte ein Volkssturm zu
werden, wenn man ihn anzutasten wagte; so verliefen die Aktionen des Kreisarztes
im Sande, und es blieb alles beim alten21.

Bereits kurz nach seiner Ankunft in Hechingen, 1922, hatte Wolf die homöopathischen
Behandlungsmethoden seines Onkels und die Anfeindungen, denen er von
Seiten der Schulmediziner ausgesetzt war, in der .Schrankkomödie' literarisch
verarbeitet22. In der Figur des Forstrats a. D. und praktizierenden Naturheilkund-
lers Kay ließ sich - schon von der äußeren Erscheinung her - nur unschwer

20 Meyers Böcke, von ihm liebevoll .Bockelis' genannt, dienten ihm auch als Zugtiere für seinen
Karren. Friedrich Wolf beschrieb das edle Gespann, mit dem er und seine Frau Else im
Frühjahr 1922 vom Bahnhof abgeholt worden seien, folgendermaßen: zwei starke, alte Ziegenböcke
, mit mächtigem kreisförmig nach hinten gebogenen Gehörn, vor einem kleinen Karren.
(Wolf, Oehmchen (wie Anm.3)). Dieser Marotte verdankte Meyer seinen zweiten Spitznamen
- .Bockmeyer'.

21 Ebd.

22 Friedrich Wolf: Die Schrankkomödie [geschrieben 1922 in Hechingen]. In: Ders.: Gesammelte
Werke. Bd.l: Dramen. Berlin 1960, S.297-387.

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