http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/zhg2007/0232
Karl Werner Steim
Tochter130 vom Kaufmann Mock-Haigerloch131. Reiser verlangte von seinem Schwiegervater
Geld zur Reise nach Amerika. Statt Geld schickte er ihm einen Revolver.
Damit sollte er sich erschießen. In Amerika wurde er zahm. Er erzählte (in meiner
Gegenwart), wie er auf der Straße an den Häusern hinauf geigte und den Hut hinhielt
und die Almosen in Empfang nahm. Zu gleichem Zwecke spielte er Harmonium in
einer jüdischen Synagoge.
[87] Reiser ging in sich, bekam Heimweh und kehrte reumütig zurück zu den Seinen
. Seine herzensgute Rosalie verzieh ihm, obwohl er sie (die nie schön, aber lieb
war), nie aufrichtig geliebt hatte. Reiser bekam Stellung bei Tonger (Musikalien-
Handlung) in Köln. Daselbst nahm er eine Anzahl von Männer-Liederbüchern und
machte ein neues Liederbuch daraus unter dem Titel „Lorelei".
Mit den Jahren wurde er alt; der gichtbrüchige Körper versagte ganz. Er wurde
arbeitsunfähig auf längere Jahre. In Haigerloch (bei den Verwandten) hatten sie sich
niedergelassen132. Der Schwiegervater war längst tot. Allmählig kam Reiser wieder
etwas zu Kräften. Er konnte sich wieder an eine Lebensaufgabe heran wagen und
übernahm die Leitung des Sängerbundes. Reiser geistige Befähigung absprechen wollen
, wäre unehrlich, ja sündhaft. Der weitgereiste, weltgewandte August tat viel, sehr
viel zur Unterhaltung des kleinen Landstädtchens. Besondere Veranlagung zeigte er
bei Fastnachts-Belustigungen.
[88] Reiser versuchte sich im Komponieren von kleineren Musikwerken. Damit
hatte er wenig Glück. Seine „St. Anna-Messe" kam nirgens zur Aufführung. Er dedi-
zierte sie dem Hauptlehrer Fink und dessen Kirchenchor. Ich war Zeuge, wie die
Anna-Messe zu Stande gekommen war. Auf Reisers Klavier lagen etwa zehn Messen
herum. Aus ihnen holte Reiser die schönsten Stellen heraus und machte eine elfte
Messe daraus. Durch diese Zusammen-Stoppelung wurden die Uebergänge so hart
und schwer und unnatürlich, daß man die Messe ohne Orgelbegleitung gar nicht aufführen
konnte, auch ebenso wenig ohne einen strammen Dirigenten. Mein 2ter Lehrer
konnte überhaupt nicht Orgelspielen. Reiser konnte (Gichthalber) nicht gehen.
Ich stand vor der Unmöglichkeit, Reisers Messe aufführen zu können.
Dafür rächte sich Reiser an mir. Der Kreisschul-Inspektor Dr. Straubinger133 war
Reisers intimster Freund. Diesen erbärmlichen Menschen schickte Reiser mir am 4.
Februar auf die Bude, um meine Schule zu revidieren. Am 4. Februar verlangte er von
meiner Oberklasse die Berechnung [89] eines abgestumpften Kegels. Ich erlaubte mir
die Einwendung: „Herr Dr. Straubinger, am 4. Februar ist man im Schulbetriebe noch
130 Rosalie Reiser geb. Mock, * Haigerloch 26.8.1839, f Haigerloch 17.1.1921, Tochter von
Johann Baptist Mock und Margaretha geb. Brucker, verh. 9.6.1863 mit August Reiser. Pfarrarchiv
Haigerloch, Familienregister.
131 Johann Baptist Mock, * Sigmaringen 26.2.1802, f Haigerloch 22.11.1871. Pfarrarchiv Haigerloch
, Familienregister.
132 1886 verlegte die Familie ihren Wohnsitz wieder nach Haigerloch. Hohenz. Blätter 109
(6.7.1886).
133 Dr. Viktorin Straubinger, * Weildorf 19.2.1832, | Hechingen 22.11.1898, beerdigt am
24.11.1898 in Weildorf. 1876-1897 Kreisschulinspektor in Hechingen, 1895 Titel Schulrat. StAS
Ho 235 T 26-28 Nr. 1075. - Heimatbücherei Hechingen U b 474.
220
http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/zhg2007/0232