http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/zhg2015-16/0174
Rolf Vogt
Die Großmächte und der Störenfried: Ansichtskarte aus den ersten Tagen des Kriegs (Vorlage: Hohenzol-
lerisches Landesmuseum 2007/574).
nächste Katastrophe des 20. Jahrhunderts begann. Ihre Gründe können - wie wir wissen
- direkt auf die Urkatastrophe von 1914 zurückgeführt werden.
Die Kriegsschuldfrage war von Beginn an auch die Lüge des Ersten Weltkriegs. Das
Reich wies Russland die Rolle des Schuldigen zu und sah England als Verräter, die späteren
Siegermächte verteufelten die Deutschen als Barbaren. Sie bestanden 1919 auf ein
Geständnis. Im Friedensvertrag von Versailles musste das Reich seine Verantwortung
anerkennen. Die Unterwerfung wurde in Deutschland als Schandvertrag gesehen, und
der Frieden galt als Schmach.
Gut 50 Jahre lang, selbst weit über das Dritte Reich und den verlorenen Zweiten
Weltkrieg hinaus, waren sich Öffentlichkeit, Politik und Geschichtswissenschaft in
Deutschland weitgehend einig, dass das Reich ohne Schuld war. Eingekreist von übermächtigen
Gegnern, habe es keine Wahl gehabt und sich schützen müssen: ein Präventivkrieg
. Ins Wanken geriet diese Legende in den 1960er-Jahren mit dem Hamburger
Historiker Fritz Fischer.A Er hob hervor, dass die deutschen Aufmarschpläne seit Jahren
in der Schublade lagen, das Reich aktiv beteiligt war am Rüstungswettlauf der Weltmächte
und seine Diplomaten und Militärs Österreichs Rachephantasien beflügelten
und gegenüber den möglichen Feindmächten Unnachgiebigkeit dokumentierten.
Deutschland wollte den Krieg, Deutschland nahm sich den Krieg. Es dauerte eine gewisse
Zeit, bis sich diese Sicht durchsetzte, aber schließlich widersprach niemand mehr,
4 Fritz Fischer: Griff nach der Weltmacht. Die Kriegszielpolitik des kaiserlichen Deutschland 1914/18.
Düsseldorf 2009 (Erstveröffentlichung 1961).
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