http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/zhg2015-16/0175
Hungerjahre und Kriegsgewinne
selbst wenn den anderen europäischen Mächten nur unwesentlich bessere Noten gegeben
werden konnten.
Neuerdings beteiligt sich Deutschland wieder an Angriffskriegen, und die Frage
nach der Kriegsschuld verliert in der Gesellschaft an Bedeutung. Im Gedenkjahr 2014
sind die europäischen Mächte am Vorabend des Weltkriegs und insbesondere ihre politischen
Akteure als geschäftiger Ball von Schlafwandlern gesehen worden, der ahnungslos
dem Abgrund entgegentanzte. Der australische Historiker Christopher Clark
steht am Beginn dieser Neuinterpretation. Seine Schlafwandler sind „wachsam, aber
blind, von Albträumen geplagt, aber unfähig, die Realität [...] zu erkennen", bewegen
sich trotzdem „mit behutsamen, wohlberechneten Schritten auf die Gefahr zu" und
sind „handlungsfähige und -bereite Entscheidungsträger". In der „Abfolge der Interaktionen
", die - theoretisch - auch mit der Beilegung der Julikrise 1914 hätten enden
können, sieht Clark eine „Kette von Entscheidungen, die von politischen Akteuren mit
bewussten Zielen getroffen wurden". Wenn Schlafwandler gleichzeitig bewusst handelnde
Akteure sein können, ist Clark frei von Widersprüchen, doch seine Weigerung,
die „Frage der Schuld" zu diskutieren, ist schlecht begründet. Von Schuld will Clark
nur sprechen, wenn „die Aktionen der Entscheidungsträger als geplant und von einer
kohärenten Absicht getrieben" dargestellt werden können: Sein „Plädoyer": ohne Vorsatz
keine Schuld. Im Kriegsausbruch sieht er „eine Tragödie, kein Verbrechen".5 Allerdings
sind Straftaten ohne Vorsatz das harte Brot aller Gerichte, und auf der Theaterbühne
kreisen Tragödien immer nur um die Frage der Schuld. Die Verantwortung
für den ersten Schuss bewegt die Gemüter bei jedem Krieg aufs Neue. Clarks Prämissen
führen auf Irrwege.
Das Gedenkjahr 2014 hat der Schlafwandler-Theorie eine Vielzahl von Varianten beschert6
, zu denen auch Forscher aus Baden-Württemberg ihre Überlegungen beigesteuert
haben. An der Neubewertung der Weltkriegs jähre in Württemberg und Baden
versuchte sich als einer der Ersten Daniel Kuhn, Lehrbeauftragter an der Pädagogischen
Hochschule Schwäbisch Gmünd, in seiner Monographie „Als der Krieg vor der
Haustür stand". Bei ihm fällt die Neubewertung der Kriegseuphorie im Sommer 1914
auf. Das sogenannte Augusterlebnis bezeichnet Kuhn als „psychologische [sie] Spannungsentladung
", von allgemeiner Kriegsbegeisterung könne keine Rede sein. „Die de
facto am weitesten verbreitete Gesinnung war, den Kriegsausbruch - ohne ihn explizit
abzulehnen - hinzunehmen und zu versuchen, sich mit der neuen Lage zu arrangieren
", schreibt er. Den „nationalen Trubel", den er offenbar nicht leugnen mag, inter-
5 Christopher Clark: Die Schlafwandler. Wie Europa in den Ersten Weltkrieg zog. München 2013,
S. 17-19, 715-718. Das englischsprachige Original erschien 2012.
6 Zur neueren Diskussion vgl. mit jeweils ausführlichen Literaturangaben Wolfram Wette: 1914: Der
deutsche Wille zum Zukunftskrieg. In: Blätter für deutsche und internationale Politik, Heft 1/2014,
S. 41-53. - Joachim Radkau: Historiker mit schwerer Munition. 1914 und kein Ende: Ungelöste Rätsel,
blinde Flecke und die alte Frage nach den „Lehren der Geschichte". Ein Essay zur neuen Kriegsbücherflut.
In: Die Zeit Nr. 3 vom 9.1.2014, S. 43. - Herfried Münkler: Die Eskalation des Schreckens. Von der Julikrise
1914 zur Politik der „revolutionären Infizierung". In: Blätter für deutsche und internationale Politik
, Heft 7/2014, S. 102-112. - Wolfram Wette: Seit hundert Jahren umkämpft: Die Kriegsschuldfrage.
In: Blätter für deutsche und internationale Politik, Heft 9/2014, S. 91-101.
167
http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/zhg2015-16/0175