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Paul Münch
Wandergewerbescheinen am 4. Februar 1911 an ein ganzes Bündel von Voraussetzungen
. Dazu zählten ein fester Wohnsitz, eine Lebensführung ohne Vorstrafen, eine gute
Versorgung der Kinder, wozu auch regelmäßiger Schulbesuch gehörte. Ein Jahr später
wurde Zigeunern und den nach Zigeunerart umherziehenden Personen das öffentliche
Zusammenreisen in Horden verboten. Nun konnten mehrere Familien nicht mehr wie
zuvor gemeinsam durchs Land ziehen, nicht einmal mehr Einzelpersonen, die sich an
eine fremde Familie anschlössen. Bei Zuwiderhandlungen drohte eine Geldstrafe bis zu
60 Mark oder Haft bis zu 14 Tagen.53
Während des Ersten Weltkriegs scheinen keine weiteren Zigeunergesetze erlassen
worden zu sein, doch in der Presse verschärfte sich merklich der Ton gegen die ungeliebten
Störenfriede. Die äußere Bedrohung ließ das Fahrende Volk im Inneren des
Deutschen Reiches weit gefährlicher erscheinen, als es tatsächlich war. In einem anonymen
Brief von der Eyach beklagte man im September 1916, im Umkreis von Wiesenstetten
, Bittelbronn, Wachendorf, Dettensee, Imnau und Mühringen eine Zigeunerplage
bislang ungeahnten Ausmaßes.54 Eine Horrormeldung jagte die andere. Der
Jagdpächter von Haigerloch, Rangendingen, Stetten und Hart behauptete, seit Jahren
im Kampf mit den Zigeunern zu liegen, doch so schlimm wie in diesem Frühjahr sei
diese Landplage noch nie gewesen: In Banden von 20 und mehr Köpfen hätten sie fast
ununterbrochen in den Jagdrevieren gelagert, dem Wildstand und den Holzbeständen
großen Schaden zugefügt. In Mühringen regte man sich über eine 150köpfige Bande
auf, in Dettensee wollte jeder im nahen Grenzgebiet auf Zigeunerbanden gestoßen sein.
Aus Imnau hörte man von täglichen Belästigungen der Bevölkerung und Diebstählen
während des Sonntagsgottesdienstes. Noch bedenklicher erschien die Lage in Bittelbronn
und im benachbarten Weiler Henstetten, wo während der kriegsbedingten Abwesenheit
der Männer die alleinstehenden Frauen und Kinder unter der frechen Zudringlichkeit
der Zigeuner zu leiden hätten. Deswegen habe man in Henstetten
vorübergehend sogar einen Gendarmen stationieren müssen. Allenthalben beklagte
man drohende Waldbrände durch offene Feuer. Sie wären zu sehen, wenn man nachts
von Bittelbronn oder Imnau nach Wiesenstetten ging und im Laibertäle kaum glaubliche
Zustände antraf: Bei oberflächlicher Zählung fand ich auf preußischer Markung auf
einer Strecke von 1 Vi Kilom. 73 Lagerfeuerstellen. Die auffällige Konzentration von Zigeunern
entlang der hohenzollerisch-württembergischen Landesgrenze war kein Zufall
. Sie lässt sich auch in anderen Grenzregionen, ja in ganz Süddeutschland beobachten
. Schlupfwinkel entlang der Landesgrenzen waren beliebt, weil sie besonders in
ausgedehnten Waldgebieten die Möglichkeit eröffneten, vor dem Zugriff der Polizei ins
nahe Ausland zu entwischen.
Wer erwartet, dass die Änderung der politischen Lage nach dem Ersten Weltkrieg
zu einer besseren Beurteilung und humaneren Behandlung der Zigeuner geführt hätte,
wird zunächst enttäuscht. In der Weimarer Republik wurden die repressiven Maßnahmen
konsequent fortgesetzt. So verbot am 27. Juli 1920 ein preußischer Erlass Zigeunern
den Aufenthalt in Heilbädern, Kurorten und Erholungsstätten.55 Im Frühjahr 1922
53 Vgl. Höhne, Zigeunergesetze (wie Anm. 48), S. 119.
54 Der Zoller vom 4.9.1916.
55 Höhne, Zigeunergesetze (wie Anm. 48), S. 119 f.
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