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Neues Schrifttum
den vom Autor nach inhaltlichen Kriterien im Hinblick auf „soziale Pathosformeln"
und Argumentationsstrategien zur Identitätsbildung analysiert. Auf der Basis des gewählten
integrativen Ansatzes von Milieu-, Alltagsgeschichte und „Lebenswelterfahrungen
" werden Rückschlüsse auf Loyalität, Berufsideal, Staatsauffassung und kollektives
Geschichtsbild im süddeutschen Einzelstaat Königreich Württemberg und dem
Nationalstaat Deutsches Reich gezogen. Sozial und habituell außerordentlich homogen
und geschlossen habe - so eine der Gemeinsamkeiten von protestantischen und katholischen
Lehrkräften - die überwiegende Mehrheit der Philologen „die konstitutionelle
Monarchie zutiefst bejaht". Nimmt man mit Ilg die konfessionelle Bindung als ein weiteres
, prägendes Element hinzu, wird bei den Protestanten der „Mangel an institutionellen
Außenhalten" durch „gewissenhafte Neugier" kompensiert, um die selbstkritische
Reflexion mit einer „prinzipiellen Bereitschaft zu Innovation, Diskussion und
Kooperation zu verbinden". Diesem protestantischen „Habitus des Suchens" {Gerhard
Schmidtchen, 1984) als akademischer Bürger steht auf katholischer Seite ein „Habitus
des Festhaltens" gegenüber, der „die katholische Unruhe mitunter zu rigorosen Abwehrbewegungen
gegen die Einflüsse der Moderne" und in eine „hermetische Abschottung
" unter dem Einfluss eines „Meinungsabsolutismus" führte, wie sie sich in
der Hitze der Debatte um den „Syllabus errorum" (1907) und den „Antimodernisten-
eid" (Papst PiusX., Motu proprio Sacrorum Antistitum, 1910) zeigen sollte - erst zurückgenommen
nach dem 2. Vaticanum (1967). Gleichwohl berücksichtigt der Autor
das einschlägige Vorfeld seit dem 1. Vaticanum und belegt dies mit deftigen Zitaten der
Rottenburger Bischöfe Karl Joseph von Hefele (1809-1893) und Dr. Paul Wilhelm
Keppler (1852-1926). „Harsch und polemisch" verurteilte Keppler am 1.12.1902 in
einer Rede über die „Wahre und falsche Reform" vor seinen Seminaristen den „Margarinekatholizismus
" und bezeichnete die Modernisten als „Reformsimpel" (S. 390), fünf
Jahre, bevor Papst Pius X. dem „Integralismus" seinen Stempel aufdrückte (Syllabus
errorum, 3.7.1907). Dagegen konterten Anhänger des Reformkurses im Hochschulbereich
ungeniert: „Wohin Keppler seinen Krummstab setzt, da gedeiht kein wissenschaftliches
Leben mehr - das ist Tatsache". Während der Rottenburger Diözesankle-
rus den Eid ab 1910 „geschlossen" leistete, fielen die Gymnasialprofessoren Dr. Josef
Trunk (Ehingen) und Dr. Karl Funk [nicht „Fürst"] (Rottweil) als württembergische
Staatsbeamte nicht unter diese Eidespflicht (S. 391). Sie konnten sich diesem Eid zwar
formal entziehen, waren aber in ihrer institutionellen Stellung inhaltlich daran gebunden
.
Reinhard Ilg zieht aus seinen vier Thesen den Schluss, dass für den Historiker der
interkonfessionelle Vergleich „reizvoll, aber kompliziert" sei, da stets Einzelfälle rekonstruiert
werden müssten und neben den kategorialen theologischen Positionen auch
die Praxis einer (Volks-) Frömmigkeit und höchst individuelle Dimensionen von Spiritualität
wertend berücksichtigt werden müssten - so das Fazit der detailreichen, eindrucksvollen
Studie, für die ein reiches Quellen- und Literaturverzeichnis zu weiteren
Analysen anregt.
Wolfratshausen Willi Eisele
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