http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/zhg2015-16/0435
Neues Schrifttum
Peter Eitel liefert nicht nur eine Geschichte der wirtschaftlichen Strukturveränderungen
, sondern auch eine genaue Darstellung der sozialen Folgen: die allgemeine Reduktion
der Handwerksbetriebe auf vergleichsweise wenige Gewerke, insbesondere in
den Dörfern, wo es vorher Kammmacher, Sieb- und Rechenmacher, Seifensieder,
Knopf- und Hutmacher usw. gab. Dazu kommt: starker Rückgang der Heimarbeit,
überlange Arbeitszeiten in den Fabriken von 12 Stunden und mehr, auch für Frauen,
überlang auch für Kinder und Jugendliche, eine hilflose Verwaltung, die nur das Nicht-
einhalten von Schutzbestimmungen konstatieren kann, aber zur Abhilfe nicht in der
Lage ist (S. 118f.) - Missstände, die natürlich nicht nur in Oberschwaben bestehen.
Die eingangs skizzierte Methode des Autors fördert zusätzlich die spezifischen Defizite
dieser Landschaft zutage. Das Bildungswesen - Volksschulen wie höhere Schulen
- hinkt den altwürttembergischen Verhältnissen deutlich hinterher. Dass es im Jahr
1880 nur zwei Schulen gibt, die das Abitur ermöglichen, ist dafür kennzeichnend. Zum
Teil wird dies mitverursacht durch Gemeinden, die schwer verschuldet sind und deshalb
bedenkliche räumliche Verhältnisse der Dorfschulen ebenso hinnehmen wie eine
klägliche Lehrerbesoldung (die ebenfalls von den Gemeinden zu leisten ist). Öffentliche
Bibliotheken sind ein sehr rares Gut. Die einst blühende Kunst- und Musiklandschaft
in Oberschwaben ist mit den barocken Klöstern verschwunden, ja selbst deren
Gebäude werden vernachlässigt.
Dieser Niedergang hat mit dem Stellenwert der katholischen Kirche in Oberschwaben
nichts zu tun, denn diese erlebt einen starken Aufschwung. Die Zahl der Priesteranwärter
und der Priester steigt unaufhörlich, die Volksfrömmigkeit lebt - gegen alle
Widerstände - in vielen Formen, insbesondere in alten und sogar neuen Wallfahrten.
Der Weingartner Blutritt findet ab 1849 wieder statt und zieht Tausende in seinen Bann.
Hinzu kommt eine überaus rege kirchliche Bautätigkeit (S. 213). Im Ulmer Katholikentag
1890 zeigt sich das neue Selbstbewusstsein. Parallel zu diesem Siegeslauf einer
Ecclesia triumphans - man betrachte etwa die Fotografie der Laupheimer Fronleichnamsprozession
1887 (S. 231) - vollzieht sich der Sieg der ultramontanen Ausrichtung.
Sie akzeptiert und fördert die Volksfrömmigkeit, die die aufklärerische Ausrichtung der
Wessenbergianer verweigert, und sie findet auch einen Zugang zur Moderne, zu den
Gesellen der Kolpingsbewegung und zu den Fabrikarbeitern. Die junge Priestergeneration
setzt sich mit Nachdruck für sie ein, etwa in Sachen Arbeitszeiten (S. 238). Der
neue Geist zeigt sich auch im öffentlichen und politischen Raum: Die oberschwäbische
Presse vollzieht eine „ultramontane Wende" (S. 77). Die Wahlen werden jetzt ganz von
der Konfessionszugehörigkeit dominiert, praktisch alle Landtags- und Reichstagsabgeordneten
des Oberlands sind Katholiken. Die Beziehungen zwischen den Konfessionen
trüben sich spürbar ein. Der Ultramontanismus wird in Stuttgart mit Misstrauen
verfolgt, Uberwachungsmaßnahmen werden eingeleitet. Ab 1895 ist das Zentrum in
Württemberg und hier wiederum besonders in Oberschwaben ein politischer Mittelpunkt
, der so in der württembergischen Parteienlandschaft vorher nicht gegeben war.
(Der Rottenburger Bischof Carl Joseph von Hefele hat sich bis zum Tod gegen diese
Parteigründung aus Gründen des konfessionellen Friedens gewehrt.)
Sehr deutlich wird in Eitels Darstellung das besondere politische Profil des katholischen
Oberschwaben: die über den ganzen Zeitraum hinweg festzustellende großdeutsche
Ausrichtung, die auch nach dem siegreichen deutsch-französischen Krieg anhält
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