http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/zhg2015-16/0436
Neues Schrifttum
und in Form eines starken Föderalismus die Reserve gegenüber der preußischen Führungsmacht
bewahrt. Der preußisch-protestantische Siegestaumel 1870/71 fehlt hier
ebenso wie eine über die Anfangsphase hinaus anhaltende nationalistische Begeisterung
im Ersten Weltkrieg, Letzteres belegt durch die auffällige Zurückhaltung beim Zeichnen
von Kriegsanleihen.
Zur spezifischen Vorgehensweise von Peter Eitel gehört das sichtbare Bemühen um
Ausgewogenheit in der Perspektive. Bei einer so vom Katholizismus geprägten Landschaft
wäre es durchaus naheliegend gewesen, den neuen und weitgehend landfremden
Protestantismus randständig zu betrachten - genau dies tut Eitel aber nicht, sondern
schildert auch ihn ausführlich und lässt ihn immer wieder zu Wort kommen, mit seinem
Unverständnis für die katholischen Frömmigkeitsformen, seinen Überlegenheitsgefühlen
usw. Der neue evangelische Pfarrer von Rottenacker im Oberamt Ehingen
spricht 1918 beispielsweise vom „katholisch-heidnischen Charakter" der dortigen
Frömmigkeit, der auch seine Gemeinde präge (S. 245). Musik, Tanz, bunte Kleidung
und Einkäufe am Sonntag sind für die pietistisch geprägten Pfarrer aus (Alt-)Württem-
berg ein ständiger Stein des Anstoßes. Einig sind sich Geistliche beider Konfessionen
in der Kritik an der oberschwäbischen Jugend, die Anstand und Sittlichkeit vermissen
lasse. Dem setzt Eitel seine Statistiken entgegen: Die Zahl der unehelichen Geburten
ist in Alt-Württemberg sogar höher. Und er sagt deutlich, dass die ständige Wiederkehr
solcher Klagen sie nicht relevanter mache. Gelegentlich wird allerdings positiv die
oberschwäbische Großzügigkeit beim Einrichten von Stiftungen und allgemein bei
Spenden von der protestantischen Geistlichkeit wahrgenommen (S. 242). Durch die
breite Einbeziehung beider Konfessionen wird das Bild der Kirchlichkeit in Oberschwaben
richtig plastisch.
Und er ist nicht der Versuchung erlegen, das „reiche" Oberland mit seinen Schlössern
und den stattlichen Pfarrhäusern der gut dotierten katholischen Pfarrer breit zu
illustrieren, sondern er wendet sich - wie im ersten Band - dezidiert den randständigen
Gruppen zu: den italienischen Saisonarbeitern, den Vorarlberger und Tiroler Hütekindern
, den „Zigeunern", den Hausierern, den verganteten Bauern und sonstigen Armen.
Die Gefahr, eine Idylle der sogenannten „guten alten Zeit" zu malen, ist damit gründlich
gebannt. Und alle Begeisterung für Zahlen und nüchterne Fakten hält ihn nicht davon
ab, gelegentlich selbst deutlich Stellung zu beziehen und von „ausbeuterischen Bedingungen
" zu reden (S. 113), wenn ihm keine kritischen zeitgenössischen Quellen zur
Verfügung stehen.
Durch die Fülle der Fakten, Daten, Erläuterungen und nicht zuletzt durch den üppigen
farbigen Bildteil - fast immer mit genauer Datierung versehen - unternimmt der
Leser eine wahre Zeitreise. Das selbstgesetzte Ziel einer „am Stück" gut lesbaren Darstellung
ist Peter Eitel gewiss gelungen. Durch die Aufteilung der Stoffmasse in übersichtliche
Teile und dank einer sehr gut durchdachten Gliederung ist hier gleichzeitig
eine Art von Realenzyklopädie entstanden, die man immer wieder zu Rate ziehen wird.
Der durch zahlreiche Druckkostenzuschüsse ermöglichte sehr moderate Preis (29,90 €)
sollte eine weite Verbreitung sichern - sie ist dem Buch sehr zu wünschen!
Laichingen Heinz Pfefferle
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