http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/zhg2015-16/0437
Neues Schrifttum
Frank Reuter: Der Bann des Fremden. Die fotografische Konstruktion des „Zigeuners".
Göttingen: Wallstein Verlag 2014. 568 S., 154 Abb. meist schw.-weiß, teilweise farbig.
Die vorliegende Studie ist eine geschichtswissenschaftliche Doktorarbeit, die im
WS 2013/2014 am Lehrstuhl für osteuropäische Geschichte der Carl von Ossietzky
Universität Oldenburg bei Prof. Hans Henning Hahn angefertigt wurde. Sie bietet alles
, was gegenwärtig von einer guten geisteswissenschaftlichen Dissertation erwartet
wird: Gelehrte methodologische Reflexionen, die erschöpfende Darstellung eines Themas
, Hunderte von Fußnoten sowie umfangreiche Quellen-, Literatur- und Bildanhänge
. Doch die Studie ist auch die Bilanz einer langjährigen beruflichen Praxis, erwachsen
aus einer über zwanzigjährigen Arbeit des Autors am Heidelberger Dokumentationsund
Kulturzentrum Deutscher Sinti und Roma. Darin liegen die besonderen Vorzüge
des Werks, aber auch einige Gefährdungen, die mit einer „Pro domo"-Sicht naturgemäß
verbunden sind.
Das umfangreiche Buch ist in vier Großkapitel gegliedert. Der erste Teil „Voraussetzungen
" diskutiert die methodologischen Grundlagen des Themas, setzt sich mit Bildtheorien
und der historischen Stereotypenforschung auseinander, diskutiert die Konstruktionsgeschichte
des „Zigeuner"-Begriffs im Wandel der Zeiten und entwirft
anschließend eine differenzierte historische Phänomenologie des „Zigeuner"-Bildes,
von der frühen chronikalischen Überlieferung, den kunst- und literaturwissenschaftlichen
Befunden bis hin zu den fotografischen Repräsentationen.
Das zweite, umfangmäßig größte und gewichtigste Kapitel der Studie richtet den
Fokus auf den Genozid an den „Zigeunern" während der NS-Zeit. Es informiert über
die rassistischen Grundlagen der NS-Ideologie, arbeitet die Bedeutung der Fotografie
für die Arbeit der Berliner „Rassenhygienischen und Bevölkerungspolitischen Forschungsstelle
" heraus und analysiert die rassistischen Fotografien und die fotografischen
Stigmatisierungen der „Zigeuner" in den einschlägigen NS-Zeitschriften und der
NS-Propaganda. Der Autor beleuchtet aus seiner exzellenten Kenntnis der europäisch
verstreuten Quellen die methodischen Probleme der Täterperspektive und bietet
sensible Bildinterpretationen, von der Propaganda in den besetzten Gebieten bis zur
exemplarischen Analyse einer Fotoserie über die Deportation von Sinti-Kindern aus
dem katholischen Kinderheim Neustrelitz.
Der dritte Teil der Studie lenkt den Blick zurück auf die Wurzeln der „Zigeuner"-
Fotografie im 19. und frühen 20. Jahrhundert. Dabei geht es um die Anfänge des ethnologischen
Blicks auf „Zigeuner", von den Feldpostkarten des ersten Weltkriegs über
die spezifischen Sichtweisen, wie sie insbesondere Martin Blocks rumänische Feldforschungen
und Fotos, aber auch andere ethnologische Beiträge repräsentieren. Sie transportieren
das Image des archaisch geprägten, gewissermaßen zeitlosen „Zigeuners", mit
starken Wirkungen bis in die illustrierte Massenpresse. Eingehende Blicke auf die Polizei
- und Arbeiterfotografie sowie die Spiegelungen des bürgerlichen Selbstbildes dokumentieren
die langsame Genese eines weit verbreiteten, oftmals romantischen „Zigeuner
"-Bildes. Gleichwohl kommt es nun auch zu alternativen Wahrnehmungen der
„Zigeuner", die nicht mehr ausschließlich als Typen, sondern als individuelle Personen
gezeichnet werden, etwa in Privat- und Familienfotos, die dem Duktus bürgerlicher
Porträtfotografie folgen.
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