http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/zhg2015-16/0438
Neues Schrifttum
Das abschließende Kapitel präsentiert vor dem Hintergrund der fortdauernden Ausgrenzung
der „Zigeuner" nach dem zweiten Weltkrieg fotografische Blicke auf Sinti
und Roma, die in der illustrierten Massenpresse („Stern", „Quick"), in Lexika und populären
Bildbänden ungebrochen die stereotyp diffamierende Perspektive auf die „Zigeuner
" fortsetzen, von der visuellen Kriminalisierung in Polizeifotos bis zu folklori-
sierenden „Brigitte"-Modefotos im „Gypsy-Look". Entsprechend lange dauerte es, bis
die aus der Bürgerrechtsbewegung der deutschen Sinti und Roma resultierende veränderte
Sicht auf die „Zigeuner" auch fotografische Folgerungen zeitigte. Nun erst konnte
der fundamentale Perspektivenwechsel, etwa im „Buch der Sinti", fotografische Bilder
von Menschen zeichnen, die nicht mehr nur als ausgegrenzte Fremde, sondern als
gleichwertige Mitglieder der deutschen Zivilgesellschaft wahrgenommen werden.
Reuters exzellente Studie wird für Jahre das Referenzwerk für die „Zigeuner"-Fotografie
bleiben. Es gibt kein vergleichbares Werk, das so viele und so seriös erhobene
und belegte Befunde zum Thema bietet. Das Buch stellt einen gewichtigen Beitrag der
deutschen Geschichtswissenschaft zum so genannten „visual turn" dar, der endlich
auch Bilder als den Texten gleichwertige, wenn nicht gar überlegene Quellen würdigt.
Bei der Entstehung und Verfestigung von Stereotypen spielen Fotos offensichtlich eine
wichtigere Rolle als Texte, weil sie, wie es der wunderbar doppeldeutige Titel des
Werks auf den Punkt bringt, einerseits den Betrachter wegen ihrer emotionalisierenden
Qualitäten unmittelbar in ihren „Bann" ziehen, andererseits die „Zigeuner" an den
Rand der menschlichen Gesellschaft verbannen (S. 19-20). Der Autor kann mit seinem
funktionsanalytischen Ansatz überzeugend darlegen, dass den angeblich so objektiven
und authentischen Fotografien neben ihren dokumentarischen ganz wesentlich attri-
buierende Funktionen eigen sind, die über die Medien verbreitet werden. Fazit: „Wer
Macht über Bilder hat, hat gleichzeitig Deutungsmacht über Menschen". Dies heißt
aber auch, dass den Medien „eine Schlüsselrolle bei der Uberwindung von Stereotypen
" zukommen könnte (S. 478), wie der Autor in einer Schlussüberlegung („Wider
den reduktionistischen Blick") anmahnt.
Dem großen inhaltlichen Ertrag des Buches entspricht ein durchweg hohes Reflexionsniveau
. Es folgt dem aufklärerischen Ideal gemeinnütziger Deutlichkeit und kommt
grosso modo ohne das modische postmodernistische Theorieklappern aus, obgleich der
Autor natürlich den Kontext der interdisziplinären bildwissenschaftlichen Forschung
kennt und diskutiert. Es gelingt, die historischen Tiefendimensionen unserer Sicht auf
die „Zigeuner" in unzähligen Facetten freizulegen und damit die eingefrorenen stereotypen
Perspektiven, die insbesondere von den Bildern ausgehen, aufzubrechen und zu
überwinden.
Reuters großes Werk wäre kein gutes Buch, wenn es nicht auch zum Nach-Denken
herausforderte. Als Insider argumentiert der Autor aus der Perspektive der Bürgerrechtsbewegung
der Sinti und Roma, mit all den Problemen, die damit verbunden sind.
Weder wollen gegenwärtig alle Zigeuner Sinti und Roma, noch alle Sinti Roma genannt
werden. Es ist auch nicht zu belegen, dass die Bestandteile des Doppelbegriffs „Sinti
und Roma" während der ersten drei Jahrhunderte der 600-jährigen „Zigeuner-Geschichte
als Selbstbezeichnungen verbreitet gewesen wären. Anzumerken ist in diesem
Kontext, dass der Autor neben der programmatisch distanzierenden Verwendung des
„Zigeuner"-Namens die Begriffe „Tsiganologe" oder „Antiziganismus", die sich ja ety-
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