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Neues Schrifttum
mologisch aus derselben Wurzel herleiten, merkwürdigerweise aber unterschiedlich geschrieben
werden, ganz selbstverständlich gebraucht. Man kann weiterhin fragen, warum
Reuter nicht chronologisch verfahren ist und das zentrale Kapitel über die NS-
Zeit vor die Ausführungen über die „Zigeuner"-Fotografie im 19. und frühen
20. Jahrhundert platziert hat. Die Ursache scheint darin zu liegen, dass auch im vorliegenden
Buch die Opferperspektive das Hauptthema darstellt. Erst das Trauma des Genozids
an den „Zigeunern" hat einen Paradigmenwechsel ausgelöst und in Deutschland
seriöse historische Forschungen initiiert, wie die wegweisenden Studien von
Michael Zimmermann belegen. Dazu passt, dass der Autor bei den Bemerkungen über
das ausgehende 18. Jahrhundert das aufklärerische Werk Johann Christian Christoph
Rüdigers, das „Zigeuner" nicht in der tradierten Weise diffamiert, übergeht, während er
Heinrich Moritz Gottlieb Grellmanns bedeutsame Rolle bei der Ausformung des negativen
„Zigeuner"-Bildes darstellt (S. 55-56). Das Zusammenleben der „Zigeuner" mit
der ländlichen Bevölkerung zum gegenseitigen Vorteil, das für die Frühe Neuzeit
mehrfach belegt werden konnte, ist bislang für die Neuere Geschichte weniger erforscht
worden, obwohl es, wie der Autor einräumt, noch in der NS-Zeit durchaus
auch „Erfahrungen von Nachbarschaft und Freundschaft, von Hilfe und Solidarität
gab." (S. 418). In diesem Kontext kann man aus hohenzollerischer Perspektive beklagen
, dass die Jugenderinnerungen des schwäbischen Zigeuners Lolo Reinhardt unbeachtet
geblieben sind.
Manche Bildinterpretationen regen zu Fragen an. Nur ein Beispiel: Nach Ansicht
des Autors sollen die Atelierbilder zweier Roma-Familien (S. 417, Abb. 134 und 135)
„den fotografischen Konventionen bürgerlicher Selbstdarstellung" (S. 416) entsprechen
. Der barfüßige Junge auf dem einen und die „zigeunerische" Kleidung auf dem
anderen konterkarieren diese Einschätzung. Wüssten wir nicht, dass diese Aufnahmen
von Roma in Auftrag gegeben wurden und deswegen als Selbst- und nicht als Fremdbilder
gelten, wäre es leicht, sie als abwertend oder romantisierend zu kritisieren. Die
Frage bleibt, wie weit sich in allen „Selbstdarstellungen" akzeptierte Rollen spiegeln.
Auch die „bürgerliche" Maske entpersonalisiert Menschen, wenngleich nicht so deutlich
wie die diffamierenden oder romantisierenden Bilder, die den „Zigeuner"-Typus
darstellen.
Es wäre beckmesserisch, bei einem so großen Werk Petitessen zu kritisieren. Dennoch
ist darauf hinzuweisen, dass sich das italienische „Zingari" nicht vom Ägypternamen
, sondern vom „Athinganoi"-Begriff herleitet (S. 50, Anm. 119). Und es ist schade
, dass den umfangreichen und forschungsnützlichen Verzeichnissen der Literatur, der
Abbildungen, der historischen Bildarchive und Datenbanken keine Personen-, Ortsund
Sachregister beigegeben sind.
Bisingen Paul Münch
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