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Neues Schrifttum
der mit ihnen den komplexen Vorgängen weit besser folgen kann. Der Stolz der Herausgeber
auf diese Neuerung ist verständlich und berechtigt.
Der große einleitende Beitrag von Robert Kretzschmar verweist darauf, dass die Entstehung
des Südweststaats ganz wesentlich durch staatlich finanzierte Propaganda
(über die „Arbeitsgemeinschaften") bestimmt wurde sowie durch den Einsatz von Industrie
- und Handelskammern, von den Gewerkschaften und durch die eindeutige Positionierung
mächtiger Presseorgane. Dies bedeutet eine wesentliche Erweiterung der
Perspektive gegenüber der älteren Literatur, die ihre Schilderungen fast ausschließlich
auf die Haupt- und Staatsaktionen der Regierungschefs beschränkte und die Helden
der Südweststaatsgründung feierte - und den Antihelden abstrafte. Noch hoffnungsvoller
für eine neue, innovative Sicht klingen die Hinweise auf „jeweils ganz eigene
Identitäten" der drei Nachkriegsländer (S. 35 und 36) mit entsprechendem Literaturhinweis
. Als zwei Seiten später die „Perspektive in Württemberg-Hohenzollern" dargestellt
wird, kommt jedoch nicht etwa die dort zeitweilig tief gespaltene CDU zur
Sprache, deren altwürttembergische und oberschwäbische Vertreter über die Konfessionsschule
unter dem Druck ihrer Wähler heftig streiten. Letztere akzeptieren zwar den
Südweststaat, keinesfalls aber eine Wiederherstellung der alten Länder und eine Rückkehr
zum „Stuttgarter Zentralismus", dem das neu gewonnene oberschwäbische
Selbstbewusstsein entgegensteht. Stattdessen ist bei der Konkretion der württember-
gisch-hohenzollerischen Befindlichkeit plötzlich nur noch von der Tübinger Regierung
und innerhalb dieser nur noch von Gebhard Müller die Rede - kein Wort von Albert
Sauer, dem Kultusminister, der als Vertreter Oberschwabens die Wiederherstellung der
Konfessionsschule durchsetzt - und zwar auch für den künftigen Südweststaat! Bei einem
üppigen Umfang von 34 Seiten (gegenüber 18 Seiten für Nordrhein-Westfalen und
14 Seiten für Hessen) hätte eine solche Differenzierung möglich sein müssen.
Will man dies als Perspektivverengung kritisieren, so gilt dieser Vorwurf erst recht
für den Beitrag von Hans-Christof Kraus „Auf dem Weg zur deutschem Vormacht -
Preußens Vergrößerungen 1848 und 1866". Hier wird die preußische Herrschaftsübernahme
in den hohenzollerischen Fürstentümern weitgehend unter dynastischen, administrativen
und finanziellen Gesichtspunkten abgehandelt. Die Befindlichkeit der Bevölkerung
wird in einen einzigen, gänzlich redundanten Satz gegossen: „Überzeugte
Preußen wurden die meisten Sigmaringer und Hechinger vermutlich niemals..." (S. 83).
Dabei gibt es zu diesem Thema eine reichhaltige Literatur, die die beträchtlichen Veränderungen
in der Einstellung zur neuen Landesherrschaft durch die wechselvollen Ereignisse
zwischen 1850 bis 1933 plausibel nachzeichnet. Noch unverständlicher ist allerdings
ein anderer Punkt. Kraus glaubt, das entscheidende Motiv für die preußische
Herrschaftsübernahme sei „die Ehre der Familie und des Herrscherhauses Hohenzol-
lern ... ein nicht unwichtiges symbolisches Kapital ..." (S. 79).
Dagegen ist anzunehmen, dass eine ungleich konkretere Symbolpolitik die entscheidende
Rolle spielte: der sich in Hohenzollern symbolhaft spiegelnde Anspruch der Ho-
henzollern auf eine nationalstaatliche Einigung unter ihrer Führung, also eine „nationaldynastische
" Symbolik (Paul Münch). Konkreter Ausdruck dieses Anspruchs ist der
sofort (nicht einmal ein halbes Jahr nach der Herrschaftsübernahme) in Angriff genommene
Wiederaufbau der Burg Hohenzollern und dessen Bauprogramm {Rolf Bot-
he); auffällig schnell sind Baupläne und ihr ideologischer Uberbau zur Hand. Letzte-
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