http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/zhg2015-16/0461
Neues Schrifttum
Interessen Regeln zur Eindämmung der Gefahren schufen und durchsetzten und es so
quasi zu einer „Staatswerdung von unten" kam (S. 61).
Etliche der Beiträge behandeln schon öfter thematisierte Gefahren für die Stadt und
ihre Bewohner, allerdings mithilfe neuer, ergiebiger Quellen oder Fragestellungen. Der
Beitrag von Marie Luisa Allemeyer etwa nimmt die bis weit ins 19. Jahrhundert allgegenwärtigen
Stadtbrände in den Blick. Dabei weist sie nach, dass die Sinngebung der
Brandkatastrophen als göttliche Strafe für das sündige Verhalten der Bewohner nach
und nach durch rationale Erklärungen und Präventionsmaßnahmen abgelöst wurde.
Rüdiger Glaser analysiert in seinem Beitrag über die historische Dimension und den
Erkenntnis gewinn von Klima- und Erdbebenkatastrophen die zeitgebundenen Erklärungen
und den gesellschaftlichen Umgang mit Überschwemmungen. Die wurden
zunächst als „Sintflut", als göttliche Strafe empfunden und „Wasserpredigten" zur Abwehr
künftiger Fluten gehalten. Überschwemmungen zeitigen durch ihr kontinuierliches
Auftreten aber auch rationale Auswirkungen im politischen, wirtschaftlichen,
technischen und im Bereich der Mentalität der Menschen, die sich der steten Gefahr
anpassen mussten und ein entsprechendes „Langzeitgedächtnis" und ein besonderes
„Regionalbewusstsein" entwickelten.
In seinem eingangs erwähnten Beitrag greift Ulrich Wagner noch einmal die Auswirkungen
von Stadtbränden auf. Er kommt bei seiner Untersuchung der Reaktionen
der städtischen Gemeinschaft zu dem Schluss, dass nicht irrationale, religiöse Deutungen
der Ursachen im Vordergrund standen, sondern dass man in den Bränden ein normales
Ereignis sah, dessen Folgen man durch Brandschutzverordnungen, Feuerversicherungen
, aber auch durch empfindliche Strafen für Verursacher abzuschwächen
versuchte.
Ins 20. Jahrhundert führt der Beitrag von Frank Ahland, der die Explosion einer
Sprengstofffabrik im Ruhrgebiet im Jahr 1906 zum Anlass nimmt, die psychischen
Auswirkungen eines schweren, wenn auch räumlich begrenzten Unglücksfalls im Sinn
der modernen Traumaforschung zu untersuchen. Ahland arbeitet dabei als Reaktion
der Gemeinschaft eine neue Form der Solidarität mit den Hinterbliebenen und den
Verletzten, eine breitgefächerte Form der spontanen Hilfsbereitschaft heraus. Für den
einzelnen Betroffenen aber das Gefühl der Ohnmacht, der Fassungslosigkeit, die Suche
nach Erklärungen für das plötzliche, einschneidende, lebensverändernde Ereignis und
den Wunsch nach Wiedergutmachung und Schuldzuweisung.
Ist es schon schwierig, bei der Explosion einer Sprengstofffabrik von „Stadtverderben
" zu sprechen, so ist der Beitrag von Rainer Leng über Bauunfälle im Mittelalter
zwar informativ, aber wie der Autor selbst einräumt: Bauunfälle waren stets Katastrophen
, aber lokal begrenzt und relativ leicht wieder gutzumachen. Auch die von Martina
Bauernfeind für die Stadt Nürnberg untersuchten neuen Unfallrisiken und Gesundheitsgefährdungen
im Zeitalter der Industrialisierung im 19. Jahrhundert waren
zwar signifikant: Die Umweltbelastung etwa durch Dämpfe und Feinstaub war damals
schon enorm; doch nicht so hoch, als dass sie das Phlegma der Verantwortlichen in
Wirtschaft und Kommune hinsichtlich der Einführung adäquater Sicherheitsstandards
hätte überwinden können. Erich Schneider hat ebenfalls ein Thema aus dem Bereich
des technischen Fortschritts gewählt: Den Bau der Ludwigs-Westbahn im Raum
Schweinfurt, der zunächst heftig kritisiert wurde und nach Fertigstellung zu einer Rei-
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