http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/zhg2015-16/0462
Neues Schrifttum
he von Unglücksfällen führte. Dann jedoch begründete die Bahnlinie die Stellung der
Stadt als Industriezentrum, was wiederum traditionelle Gewerbe wie Fischer und
Schiffer zerstörte.
Hunger und Seuchen gehören seit jeher zu den schwersten Bedrohungen der Bevölkerung
. Monika Höhl untersucht anhand der Diarien der Hildesheimer Patrizierfamilie
Brandis wie sich wohlhabende Schichten im 16. und 17. Jahrhundert vor Seuchenzügen
schützten: durch die Flucht in nicht betroffene Regionen. Diese Erkenntnis ist
nicht neu. Was den Beitrag so beeindruckend macht, ist die ungewöhnliche Dichte und
Aussagekraft der über einen langen Zeitraum geführten Tagebücher. Höhl verdeutlicht,
dass die Prophylaxe in Seuchenzeiten vor allem der privaten Initiative entsprang; obrigkeitliche
Maßnahmen, so Höhl, fehlen bis in die Mitte des 18. Jahrhunderts. Dass die
Obrigkeit sich aber durchaus den Herausforderungen stellte, die von ansteckenden
Krankheiten ausgingen, zeigt Robert Jütte in seinem Beitrag über die Maßnahmen
deutscher Städte angesichts der am Ende des 15. Jahrhunderts erstmals in Erscheinung
tretenden Syphilis. Jütte erkennt dabei eine Doppelstrategie der Obrigkeit: Isolation
und soziale Achtung der Betroffenen auf der einen, medizinische und materielle Hilfe
auf der anderen Seite.
Der Hunger nimmt in dieser Sektion eine gewisse Sonderstellung ein; zum einen
konnte er - als Folge von Kriegen etwa - durch menschliches Handeln entstehen und
nicht nur aufgrund von Naturereignissen wie klimatisch bedingten Missernten. Zum
anderen konnte er durchaus auch im 20. Jahrhundert, im Ersten Weltkrieg oder in der
Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg, in Deutschland zu einem existentiellen Problem
werden. In seiner Darstellung von Hungersnöten in hessischen Städten beginnt Thomas
Heiler denn auch seine Schilderung mit der Hungersnot des Jahres 1947. Heiler
machte bei seinen Recherchen die bemerkenswerte Beobachtung, dass nicht nur die
„klassischen" Hungersnöte bis ins 19. Jahrhundert in ihren Auswirkungen auf den Einzelnen
kaum quellenmäßig erfasst werden können, sondern auch für die Hungersnot
nach 1945 lediglich die administrativen Gegenmaßnahmen aus den Archivquellen nach-
zuvollziehen sind.
Wer sich der Geschichte der Stadt zuwendet, rindet in dem vorliegenden Band eine
Fülle von Anregungen für weitere Forschungen, auch für den hier etwas zu kurz gekommenen
deutschen Südwesten: Wie haben Bedrohungen und Unglücksfälle zur
Ausbildung von Mentalitäten beigetragen? Wie haben sie politische Strukturen beein-
flusst, die grundlegende kommunale Aufgabe der Daseinsvorsorge nach und nach umgeformt
und erweitert und damit dazu beigetragen, dass Städte selbst nach schlimmsten
Katastrophen in aller Regel wieder „zurückfederten" ?
Calw KarlJ. Mayer
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