Institut für Grenzgebiete der Psychologie und Psychohygiene, Bibliothek, Frei122-MZ18
Zeitschrift für kritischen Okkultismus und Grenzfragen des Seelenlebens
Band 1
Seite: 104
(PDF, 78 MB)
Bibliographische Information
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Richard Baerwald.

sein44 bezeichnen — sehen wir in den sog. „Bekehrungen441). In einem Menschen
entwickelt sich unterhalb der Herrschaftszone seines gewöhnlichen
Tagelebens eine entgegengesetzt gerichtete Unterströmung; meist ist es der
religiöse Mensch, der sich gegen den sinnlich-materiellen aufzulehnen sucht.
Aus dem Oberbewußtsein verdrängt organisiert sich diese Gegentendenz in den
verborgenen Gründen der Seele. Die Gesamtpersönlichkeit empfindet sich
dabei als verworren, melancholisch, mit sich selbst zerfallen. Es kommt oft zu
einer förmlichen Abdankung des Oberbewußtseins, des normalen Ich durch
hoffnungslose, auf das Leben resignierende Verzweiflung, Sündengefühl, Bewußtsein
des Yerlorenseins, sowie durch restlose, auf jeden eigenen Rettungsversuch
verzichtende Hingabe an Gott, dem man sein ganzes Dasein anheimgibt
. In diesem Augenblick kann, oft unter Einsetzen einer Ekstase, einem
plötzlichen Aufleuchten höchster Seligkeit, die neue Wesensart, die sich so
unterirdisch kristallisiert hatte, geradezu vulkanisch hervorbrechen, und ein
ganz anderer Mensch kommt zutage, bisweilen dem bisherigen in Ansichten
und Lebensgewohnheiten so entgegengesetzt, wie es durch einfach verstandesmäßige
Umorientierung der Weltanschauung, durch willkürlichen Verzicht
auf liebgewordene Bedürfnisse wie Alkohol, Tabak, Geschlechtsverkehr, durch
freiwilligen Entschluß zu Handlungen und Worten der Liebe und Selbstlosigkeit
kaum möglich wäre. Das ist die „Wiedergeburt44, wie sie auf dem Boden
der verschiedensten Religionen eine Rolle spielt. Einen interessanten Spezialfall
, bei dem der einer Bekehrung zugrunde liegende Gegensatz die einheitliche
Persönlichkeit wirklich ganz in zwei Stücke zerriß, bilden die Erfahrungen
des englischen Theologen Stainton Moses. Er war ein orthodoxer Anhänger
der anglikanischen Kirche. Eines Tages fühlte er sich zu automatischem
Schreiben genötigt. Als er diesem übermächtigen Triebe nachgab, offenbarte
sich durch seine schreibende Hand der angebliche Geist eines anderen, verstorbenen
Theologen, der einer ganz freireligiösen Richtung huldigte und
selbst den göttlichen Charakter Christi abstritt. Es kam zu einem langen, mit
den feinsten Waffen der Wissenschaft geführten Disput zwischen den beiden
Fachgenossen, dem toten und dem lebenden, und das Ergebnis war, daß
Stainton Moses zwar nicht für eine freiere kirchliche Richtung, wohl
aber für den Spiritismus gewonnen wurde, womit die Bekehrung gewissermaßen
entgleist war. Wer ausgerüstet mit den Erklärungsmöglichkeiten der
modernen Psychologie des Unterbewußtseins an den Fall herantritt, wird es
für wahrscheinlich halten, daß jener angeblich verstorbene Amtsbruder tatsächlich
— der Zweifel gewesen ist, der kaum einem nachdenkenden Theologen
erspart bleibt, daß dieser, gewaltsam von der Gewissensangst wie vom Selbsterhaltungstriebe
verdrängt, im Unterbewußtsein des Mannes eine Zuflucht gefunden
, sich hier zu einer vollständigen, abgerundeten zweiten Persönlichkeit
ausgebaut hatte und nun mit Hilfe des automatischen Schreibens, dieses
„Steigrohres des Unterbewußtseins44, den Weg nach oben fand.

*) Vgl. William James, „Die religiöse Erfahrung in ihrer Mannigfaltigkeit".
Deutseh von Georg Wobbermin, Leipzig, Hinrichs, S. 199 ff.)


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