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Mattiesen: Versuch der Erklärung eines merkwürdigen Erlebnisses

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„Fall" zu den Akten geben, zumal er den Vorzug hat, „frisch gepflückt" zu
sein, den Gefahren längerer Aufbewahrung im Gedächtnis also nicht unterworfen
gewesen ist. Der Vorgang selbst ist nämlich, während ich dieses
schreibe, erst zwei Tage alt und wurde mir heute früh von der Perzipienten*
meiner Frau, erzählt, indem ihr erst gestern abend seine Bedeutsamkeit zum
Bewußtsein halte kommen können. Ich verzichte darauf, einen Bericht von
ihrer eigenen Hand zu liefern: die Darstellung, die ich auf Grund eingehendster
Befragung gebe, benutzt in allen entscheidenden Einzelheiten ihre eigenen
Worte.

Dem Berichte selbst sind folgende Angaben vorauszuschicken: Unser Haus
in (lehlsdorf bei Rostock liegt an einer Straße, die zum breiten Hafenstrom
der Untcrwarnow hinabführt, von welchem uns nur drei weitere Grundstücke
trennen. Die Straße ist, wo sie den letzten, ziemlich steilen Absturz zum Flußufer
erreicht — einen leicht bewachsenen sandigen Abhang, der nicht ohne
Unbequemlichkeit zu passieren ist —, mit einem Drahtgitterzaun abgeschlossen,
der nur an einer Seite einen offenstehenden Durchlaß hat. Vom eigentlichen
Uferstrich führt ein etwa ii/2 Fuß breiter und l\o Schritt langer Steg in die
Warnow hinaus, an welchem einige den Anwohnern der Straße gehörige Boote
festgemacht sind. Eins von diesen wird zuweilen von den Eheleuten Westphal
benutzt, welche einen Anbau unseres Hauses bewohnen und ein Söhnchen
im Alter von Jahr haben, das tagsüber vielfach im Vorgarten und vor dem
Haus \ auf der fast völlig unbefahrenen, baumbeschatteten Straße, sein Wesen
treibt. Hinter dem Hause befindet sich ein langgestreckter Garten, dessen Längsachse
im rechten Winkel zur Straße liegt und von dem aus man einen ungehinderten
Blick auf den oberen Teil der weißgetünchten Rückwand des Hauses
hat. Dagegen ist der Blick nach dem Flusse, insbesondere nach der Bootbrücke
zu durch die dichten Bäume der Nachbargärten und die erwähnten drei weiteren
Häuser vollkommen versperrt. — In diesem Garten nun lag vorgestern,
Sonntag, den 8. August, vormittag», L. M., meine Frau, in einem Liegestuhl,
Gedanken und Erinnerungen sich überlassend, in einer Stellung, die ihren
geradeaus gerichteten Blick etwa das Dach des Hinterhauses treffen lassen
konnte. Mitten in ihrem Sinnen kam ihr die Vorstellung — gewissermaßen
ein ».inneres Bild" —, es stehe „auf dem Dache" eine „weiße Gestalt", „ein
weißes zerflossenes Etwas", aber doch von ungefähr menschlichen Umrissen,
Menn auch ohne genauere Unterscheidbarkeit in Einzelheiten. Diese Gestalt
„winkte", als wollte sie die Perzipientin heranrufen, so daß diese im ersten
Augenblick auf den Gedanken kam: dies sei doch gerade, wie wenn jemand
eine Ankündigung des eigenen Todes erhalte, indem „der Tod" ihn heranwinkt
. Deutlich danach aber zeigte die Gestalt anhaltend in der Richtung
nach dem Flusse. Diese Erscheinung hielt einige Zeit an, in d e r Weise,
daß, wenn die Perzipientin sich gewissermaßen ermunterte und scharf nach
dem Dache hinsah, das Bild verschwunden war, dagegen sogleich wieder auftauchte
und mit Hinzeigen nach dem Flusse zu fortfuhr, sobald sie sich gewissermaßen
wieder dem „inneren Sehen" überließ. Mit der Wahrnehmung
des Zeigens verband sich aber „blitzartig" der Eindruck: „Ach, da ist ja der
kleine Westphal auf der Bootbrücke", was indessen sozusagen beruhigend
wirkte, in dem Sinne: „es gilt also gar nicht mir". Damit aber schüttelte
die Perzipientin den Eindruck auch ab, lachte ihn gewissermaßen als „verrückt
" hinweg, erhob sich und spazierte im Garten umher, ohne der Sache


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