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Zeitschrift für Parapsychologie. l.Heft. (Januar 1927.)
weiter nachzudenken. — Am nächsten Tage, also gestern, gegen Abend, traf
meine Frau zufällig die junge Frau Westphal auf dem Hofe, welche sofort
und völlig spontan von dem Schreck zu erzählen begann, den sie am Vormittag
des Vortages erfahren und der sie noch fast die ganze nachfolgende Nacht
hindurch wachgehalten habe. Sie habe ihr Söhnchen vermißt, es überall
gesucht und schließlich mutterseelenallein am äußersten Ende des Bootsteges
stehend erblickt; niemand sei zugegen gewesen, so daß ein Sturz ins Wasser
unentrinnbares Ertrinken zur Folge gehabt hätte. Erst bei diesem Bericht
kam L. M. das Bewußtsein der Bedeutsamkeit ihres Erlebnisses, von dem sie
aber auch jetzt Frau W. nichts sagte. Da Gäste anwesend waren und bis zum
Abend blieben, gelangte sie erst am nachfolgenden Morgen — heute früh —
dazu, mir die ganze Sache zu erzählen.
Ich habe natürlich Frau Westphal ins Verhör genommen und führe am
ihren Angaben noch folgendes an. Das Kind spielte — - etwa zwischen 10 und
ii Uhr — im Vorgarten vor dem Anbau, während sie bei häuslicher Arbeit
war; sie hörte einen Nachbarn, II., zu ihm sprechen, und war um so mehr beruhigt
. Nach einer Weile aber kam ihr zum Bewußtsein, daß sie das Kind
schon einige Zeit nicht mehr gehört habe; in leichter Unruhe ging sie auf die
Straße und, als sie es dort nicht sah, in noch größerer Unruhe nach dem
Flusse, wo sie den Kleinen in Hockstellung am äußersten Ende des Sieges erspähte
, ein Anblick, bei dem ihr fast die Knie brachen. Sie beherrschte sich
mühsam so weit, daß sie dem Kinde in fröhlichem Ton etwas Lockendes zurief: es
machte sich auf den Weg zum Lande, kniete aber nochmals nieder, um sich an der
Kette eines Bootes zu schaffen zu machen. Dieser neue Schreck gab der Mutter
die Kraft, ihm entgegenzulaufen und es in Empfang zu nehmen. Wegen des
Sonntags war niemand weit und breit zu sehen. Das Kind hatte den Bootsteg
noch nie allein betreten, wohl aber gelegentlich an der Hand der Ellern,
um auf einer Bootfahrt mitgenommen zu werden. —
Soweit die Tatsachen. Eine eindeutige Auslegung von zwingender Ueber-
zeugungskraft ist offenbar nicht zu gewinnen. Halten wir uns an die landläufigen
, möglicherweise ganz unzulänglichen Begriffe, so stellen sich die Möglichkeiten
der Deutung etwa folgendermaßen dar: i. „Telepathische" Benachrichtigung
meiner Frau, oder der Mutter und durch sie meiner Frau, oder aber
beider — durch das Kind. Dies erscheint mir als die wenigst überzeugende,
f wenn auch natürlich als eine logisch zulässige Erklärung. Wenn man auch
die Möglichkeit telepathischer Agenz bei kleinsten Kindern zugestehen muß,
so scheint doch im vorliegenden Falle kaum ein Anlaß gegeben, solche Agenz
vorauszusetzen. Man darf mit ziemlicher Sicherheit annehmen, daß sich das
Bewußtsein des Knaben an dem erreichten Ausflugsort in ruhiger Zufriedenheit
harmlosen Spieles wiegte. Begriff ein überlegenes „Unterbewußtsein"
des Kindes besser die Gefahr, in der es schwebte? Die Annahme ist statthaft;
aber nicht eben viele meiner Leser mögen sich auf den theoretischen Boden
stellen, den sie eigentlich voraussetzt: dein der Wiederverkörperungslehre. Auch
ergäbe sich hierbei die fragwürdige Folgerung, daß jenes „Unterbewußtsein"
außerstande war, den kürzesten Weg der Bewahrung einzuschlagen: nämlich
„sein eigenes'* Subjekt durch einen unmittelbaren motorischen Antrieb
aus der (jefahrzone hinauszuführen. — 2. Die nächstgelegene Alternative würde
natürlich einer der beiden beteiligten erwachsenen Personen ein mehr oder
minder aktives „Hellsehen" zuschreiben. Bei der Mutter hätte sich dieses in
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