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Mattiesen: Versuch der Erklärung eines merkwürdigen Erlebnisses
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eine bloße „Unruhe" (deren normales Entstehen übrigens sehr leicht verständlich
wäre), bei L. M. in eine dramatisierende Halbvision nebst erläuterndem
„Wissen'* übersetzt. Hiergegen läßt sich kaum etwas sagen: beide Frauen hatten
ein gemütliches Interesse an dem Kleinen, wenngleich die eine ein außerordentlich
viel stärkeres als die andere. Die Mutter vor allem also hatte Gründe, den
Wanderungen des Kleinen, sobald er ihr aus den Augen und Ohren war, in
ihrem „hellsehenden Unterbewußtsein4* zu folgen. Ja, man mag diese Betätigung
sogar der Mutter allein, als der Nächstbeteiligten, zuschreiben, L. M.s
Vision dagegen „telepathisch" \on der Mutter angeregt sein lassen. — 3. Man
könnte sogar — was könnte man nicht? — diese Vision erst in dem Augenblick
telepathisch erregt sein lassen, da die Mutter des Kleinen ansichtig
wurde, womit u. U. jedes hellseherische Element dem Falle genommen wäre.
Genaue Zeitangaben sind, wie ich bereits zu verstehen gab, weder für die
Vision, noch für die Unruhe oder die schließliche Entdeckung der Mutter zu
erlangen, die Anordnung ihres zeitlichen Verhältnisses zueinander ist also in
unser Belieben gestellt. Immerhin erscheint mir die letztgenannte Deutung
wenig wahrscheinlich: die Vergleichung mit zahlreichen andern Spontanfällen
muß uns erwarten lassen, daß der atemraubende Schreck der Mutter sich auch
bei der — ex hypothesi — telepathischen Perzipientin in einem etwas stürmischeren
Erlebnis ausgewirkt hätte.
4. Aber offenbar ist noch eine letzte Möglichkeit der Deutung im beschränkten
Rahmen herkömmlicher Schemata gegeben. Sie steht freilich nur
denen offen, welche vom Dasein für gewöhnlich unsichtbarer Wesen überzeugt
sind, die dem irdischen Leben nicht teilnahmslos, sondern tätig anteilnehmend
gegenüberstehen; eine Ansicht, zu deren Gunsten ich kürzlich in einer Aufsatzreihe
im „Revalo Bund" einiges Material veröffentlicht habe. Das spiritistische
Problem, das hiermit berührt wird, ist nach der Meinung vieler noch ungelöst;
andere — und ich rechne mich zu ihnen — halten es für gelöst im Sinne der
Bejahung. Auf diesen Meinungsstreit selbst kann hier natürlich nicht eingegangen
werden. Aber vorausgesetzt, daß er eines Tages im Sinne der Bejaher
wirklich entschieden sein wird: welche Deutung des obigen Vorfalls würde
dann auf dieser erweiterten Plattform als die natürlichste erscheinen?
Mir scheint: die spiritistische. Und mein Grund dafür liegt eben in der völlig
passiven Reaktion der Perzipientin auf die ihr gewordene Schauung. Wäre der
eigentliche Quell dieser Schauung in ihrem eigenen Innern gewesen, d. h. hätte
wirkliches Hellsehen oder eine telepathische Mitteilung der Mutter ihr ein
unterbewußtes Wissen um die Gefährdung des Kindes verschafft, so müßte
das Ausbleiben eines motorischen Dranges in der Richtung des Beistandes eigentlich
wundernehmen: vollends wenn ich hinzufüge, daß meine Frau zu den vorsichtigen
und in gewissen Grenzen ängstlichen Menschen gehört, für welche eine
Gefahr beinahe eine höhere Stufe von Wirklichkeit bedeutet. Weit eher könnte
<!aher ihr gleichgültiges Verhalten na tür lich erscheinen, wenn man die
Quelle ihres Wissens und Schauens in einen Dritten verlegt, dessen „Mitteilung
* von ihr dem letzten Sinne nach eben nicht verstanden wurde.
Und zwar würde diese Mitteilung teils in einer eigenartigen Selbstsichtbarmachung
des Mitteilenden nebst Gesten bestehen — eine erste Stufe auf dem
Wege von der bloßen „Möglichkeit" eines Phantoms zu seiner „Objektivität"—;
teils in einer Beeindruckung mit gewissen Vorstellungen. Wird man mir einwenden
, daß doch hiermit das „Wissen um die Gefahr" wiederum gegeben war,
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