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Bergmann: Die Evolution der mystischen Psyche.
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Helldunkel eines Uebergangszustandes, in dem die Erlebnisse der Unterseele
knapp bis ans Licht der Oberseele heranstreifen und herauftauchen, um alsbald
mit jener oft schmerzhaften Betonung, die ihnen das Bewußtsein verleiht,
wieder im Dunkel der Parapsyche zu verschwinden. Wie die Fische aus der
grünen Wassertiefe an die Oberfläche kommen und undeutlich erkennbaren
Strichen gleich darunter hinziehen, zuweilen bei einer plötzlichen Wendung hell
und farbig aufblitzend im Licht, das von oben hereinfällt, um dann wieder im
Unergründlichen sich zu verlieren, so ziehen die Gestalten unseres mystischen
Innenlebens im einsamen Seelengrunde, vom Bewußtsein belauscht und ersehnt,
bejubelt, wenn sie sich ihm nähern, betrauert, wenn sie wieder vor ihm fliehen.
Der Mystiker gibt ihnen einen Namen, don Namen Gott. Aber sie sind nichts,
als die natürlichen Lustgefühle des lebendigen Seins, die zuweilen eine hohe,
ja höchste Intensivierung erfahren, was stets irgendwie mit physiologischen
Reizzuständen zusammenhängt. Wunderbar ist daran eigentlich nichts, ysenv
man unter wunderbar „unnatürlich" verstehen will. Und doch ist alles mystische
Erleben wunderbar, d. h. Wunder offenbarend, die ohne Ende sind. Der Mystiker
fühlt, wie Gott oder das Göttliche in ihm umherzieht und eines Tages an die
Oberfläche seinem Seele tritt. Er sitzt und wartet auf diese Stunde der Schauung
. Die Welt hat er von sich hinwegbewegt. Er hat sein Inneres gereinigt
und geläutert vom Staub des irdischen Daseins und die erste Stufe der mystischen
Klimax erstiegen, d. h. sein Inneres zum Fokus jener Mächte hergerichtet,
die, wie er mit Recht annimmt, himmlisch sind. Die mystische Psyche beginnt
sich in ihm zu entwickeln. Noch ist sie still und ungewiß dämmernd, aller Inhalte
scheinbar ledig. Dieses dumpfe und bedrückende Leerheitsgefühl erlebt er
als Grottesferne. Es stimmt ihn bang und trauernd. In Wahrheit fehlt infolge
irgendwelcher Ursachen der schöpferische Klang in seinem Inneren. Die
Mauern um ihn schweigen, durch die Fenster bricht der Alltag mit seinem
Grauen und unmystischen Bekannlheitsakzent. Der Mystiker flüchtet in Dome
und Kapellen, wo das Dämmerlicht des Marienglases mit seltsamen Fremdheitsgefühlen
an seine Innerlichkeit pocht. *Sein Ich, das allzu bekannte, schein 1 sich
auszuwechseln, und das Fremde, göttliche Ueberich, in Wahrheit die Parapsyche
mit ihren unermeßlichen Inhalten, an s?ine Stelle zu treten. Auf dem
Utar seines Inneren entzündet sich nun ein neues Licht, die „stille Slillheit",
in dn- sich Gott zu ihm naht. Dieses eigenartige Erlebnis der seligen Verödung
unseres Inneren, das alle Mystiker beschreiben, ist eine stets notwendige Durchgangsstufe
der mystischen Praxis, über die der Weg zur Ekstasis führt. Viele
Mystiker, z. B. Meister Eckhart, schwelgen schon im Genuß dieser „stillen Stillheit
" und nennen sie Gott, das ,,lautere Nicht", die „Wüstenung" unserer
Seele.
Aber der Weg des Mystikers ist damit noch nicht zu Ende. Die mystische
Seele entfaltet sich erst voll in der Ekstasis, dem psychotischen Heraustreten
des Ich aus der Form seiner selbst in ein als göttlich gedachtes Ueberich. Meislei
Eckhart ist spekulativer Denker. Ein kühler Hauch denkerischer Bewußtheit
streicht über seine mystische Seele dahin, so ernst und gewaltig sie sich aucli
empor türmt. Viel wärmer fühlen Seuse und die Gruppe der erotischen Mystiker.
Von Rausch und Taumel ergriffen stürzen sie sich dem nahenden Göttlichen
entgegen, das doch in ihrer eigenen Psyche aufquillt. Alle aber befinden sie
sich sozusagen auf der Inzeslfiucht vor dem Ich, jenem wohlvertrauten, allzu
verwandten lebenslänglichen Wanderbruder des Menschen. Dieses Erlebnis der
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