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Zeitschrift für Parapsychologie. 1. Heft. (Januar 1927.)
Auswechslung dv* Ich mit einem anderen fremden, größeren und mächtigeren
ist der Ursprung und das Geheimnis aller Mystik.
Die Evolution der mystischen Psyche, studiert man sie an den großen religiösen
Genies der Geschichte, beginnt stets mit der sogenannten „Abgeschiedenheit
'* von der Welt, die für den religiösen Mystiker ein Unnatürlichwerden
seiner gesamten Lebensweise bedeutet. Askese und Castigatio, Geißelung des
Fleisches und Mönchstum, freiwillige Einsperrung und ^Vernachlässigung des
Körpers führen zu einer krankhaften Beeinträchtigung, ja Verkümmerung des
physischen Menschen, die die Voraussetzung bildet für jenes abnorme Anschwellen
und Wuchern Her geistigen und seelischen Seinsform auf einem abgezehrten
und abgehärmten Leib. Die großen mystischen Genies der Religions-
geschichle sind zumeist Schwerkranke, die sich „in Uebungen geübt" haben
durch Jahre hindurch und ihr Nervensystem auf dem Umweg über seinen
körperlichen Träger mit Gewalt zersfört haben. Die abnormen und ganz regelwidrigen
Abläufe ihrer Psyche, ihre Visionen und Halluzinationen, ihre Raptus
und Ekstasen, Ergriffenheits- und Tobsuchtsanfälle gehören ins Kapitel der
schweren Neurosen, also der Medizin, sehr oft auch der Sexualpathologie. Ihre
mystische Psyche ist revolutioniert, nicht aber auf normale Weise evolutioniert.
Das klinische Bild, das sie gewähren, ist für den modernen Beschauer, dem
jede Art von religiösem Wahnsinn unsympathisch erscheint, weniger interessanl
als die Betrachtung einer natürlichen seelischen Entwicklung, die des Eigenartigen
schon genug bietet. Der moderne Mensch, der seinen Körper wie ein
wertvolles Gut pflegt und hütet, womöglich Sport treibt, jedenfalls aber die
Notwendigkeit des naturgemäßen Lebens erkannt hat und durch die Schäden
der Zivilisation fortwährend darauf hingewiesen wird, dieser moderne Mensch
kann in einem viel edleren und reineren Sinne Mystiker sein als der mittelalterliche
Christ, der die Natur als das Reich des Satans flieht, seinen Körper
wie etwas Schlechtes und Verworfenes verbirgt und sich seiner schämt. Dennoch
vermissen wir in der Seelengeschichte der Gegenwart das große myslische Genie
und glauben, es bedürfe des Bodens einer geschichtlichen Religion, um sich
zu entwickeln und bemerkbar zu machen. Das ist nicht der Fall. Mystik muß
nicht religiös sein. Das mystische Verschmelzungsgefübl muß sich nicht notwendig
an Gott wenden, die ,.unio mystiea" kann auch mit einer nicht als
Gott gedachten Macht vor sich gehen, wenn uns diese Macht auch immer als
göttlich erscheinen wird. Man kann auch hier sagen: Gefühl ist alles, Name ist
Schall und Rauch. Darauf allein kommt es an, daß in unserem Ich jenes
charakteristische Erlebnis eines Nebenich oder Ueberich erwächst, in das wir
hinübertreten und mit dem wir zusammenfließen, wodurch unser seelische«
Sein jene magische Erhöhung und Erweiterung erfährt, die uns enlrückt und
entzückt und selig maehi. In der religiösen Mystik spielt Gott diese Rolle.
InW diesem Namen >erbirgt sich der Begriff einer Instanz oder Substanz,
die von unserem Denken und Wollen unabhängig ist oder uns doch als fremd
und unabhängig erscheint, die mitunter drohend, ineist ab^r wohlwollend
uns zugewandt ist oder so erscheint, jedenfalls ein Gebilde unserer
Phantasie, unseres schauenden Intellekts oder strebenden Gefühls. Dieses V lind,
an das wir innerlich grenzen, das mitunter gewaltig aufgetürmt uns bedrängt,
mitunter lieblich lockend sich uns öffnet, dieses myslische Aliud unserer innersten
Schöpfungen können wir Welt nennen oder Urich oder Allsein, wenn wir
uns metaphysisch ausdrücken wrollen. Wir können es aber auch mit Jakob
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