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Bergmann: Die Evolution der mystischen Psyche.
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Böhme „den Ungrund" oder mit Meister Eckhart „den übergotten Gott"
nennen, oder mit Seuse „die ewige Weisheit" oder mit Johannes Tauler „das
Meer, auf dessen Höhe wir fahren", das heute unter uns stürmt, und morgen
uns auf seinem glatten seligen Spiegel davonträgt. Dieses Aliud, dieses Größere
und Fremde sind ja doch wir, dieses Meer, in das die Taulersche Seele ihre
„Ueberfahrt" antritt, ist unsere bewegte, bald ruhige und bald stürmende
Psyche, Etyperpsyche und Superpsyche selbst. Und schon die vielen dichterischen
Bilder und Gleichnisse, die die großen deutschen Mystiker herbeibringen,
um ihre mystischen Erlebnisse zu erläutern, beweisen, daß das mystische Phänomen
überreligiös ist und im Mittelaller lediglich in der damaligen Begriffssprache
, die eben die religiöse war, einherging.
Die mystische Union vollzieht sich also zwischen unserem ego und einem
>on uns geschaffenen alter, das man das Nichtich nennen könnte, wenn man
bedenkt, daß dieses Produkt unserer unbewußt schaffenden Einbildungskraft
als denk- und willensunabhängig von uns gedacht und erlebt wird, ohne es
doch wirklich zu s°in. Wäre dieses Nichtich, dieser Gegenstand des mystischen
Erlebens und der mystischen Union, nicht aus uns selbst geboren und >on uns
selbst gemacht, könnten wir ihn nicht je nach Laune und Stimmung, die uns
beherrscht, dunkel und groß gestalten, aber auch hell und lieblich, die *\ariabili-
iät der mystischen Lagen und Akte, die wir in so großer Farbigkeit und Fülle
in den literarischen Ergüssen der männlichen und weiblichen Mystiker beobachten
können. wäre nicht möglich. Schon dem spezifisch religiösen Mystiker
genügt der Name Gott bei weitem nicht mehr, am die Spannweile und Mannigfaltigkeil
seiner Schauungen auszudrücken. Was ist Gott? Wenn man an Dionysius
Areopagita denk!, geradezu etwas Nichtssagendes, das erst lebendig und
menschlich warm vor den religiösen Menschen hintritt, wenn es von der
christlichen Dialektik in Yater, Sohn und Heiliggeist zerlegt wird oder als
Madonna und Adorata ihm die felix porta coeli öffnet. Kind und Vater oder
Kind und Multer sind also die sich gegenüberstehenden Partner im mystischen
Zusammenfluß \on Seele und Gott. Yater und Mutter verkörpern in der Tat
dem Kinde gegenüber diesen für den Gottesbegriff charakteristischen Inhalt
des übermächtig und von uns unabhängig Waltenden, von dem wir uns abhängig
fühlen. Und was im mystischen Komplex nachzittert, ist die infantile Seele,
die in keinem noch so erwachsenen Menschen jemals ganz erlischt und die im
religiösen Begriff der Gotteskindschaft eine so hervorragende Bolle spielt. Wenn
wir mystisch werden, kehren wir zurück in den Mutterschoß, dem wir entquollen
, in die Vater kraft, die uns gezeugt und geformt hat und an deren festen
und sicheren Umrissen gemessen wir uns hilflos und verloren fühlen. Vor
unserer Absplitterung und Lostrennung vom Lebensurschoß fürchten wir uns
und fliehen wir, wenn wir mystisch bedürftig werden. Daher die tiefe metaphysische
. Erregung des Mystikers, wenn er rein kontemplativ den Akt der
mystischen Reunion mit der malrix aeterna in einer hohen Stunde seines Erdenwallens
schauend und schauernd vollzieht.
Der moderne Mystiker, der sich seine eigene Ethik auf den Leib schneidet,
so wie er sie braucht — und er braucht sie bestimmt —, dieser moderno und
virtuose Mystiker, der keine Art von dogmatischen Bindungen mehr ertragen
kann und absolut frei atmen will, geht andere Wege als der altchristliche
Klosterzellenasket. Gewiß ist die stille Kammer, das Schweigen der einsamen
und engen Mauern, das uns umgibt, auch heute noch ein gewaltiger Impuls
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