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Zeitschrift für Parapsychologie. l.Heft. (Januar 1927.)

zur Evolution der mystischen Psyche Dem echten Mystiker genügen auch heute
noch >ier nackte Kalkwände, um aus sich selber herauszutreten. Omnia sua
secum portal, innere Symphonien und Triptycha, die ein Hauch, der darüber
weht, lebendig macht. Wie aber steht es mit der Kunst, von der man glauben
könnte, daß sie der mystischen Seele unendlich viel bedeuten müßte? Wer des
Konzertsaales bedarf oder etwa der bildenden Kunst, um seine Seele mystisch
zu entwickeln, fällt sicherlich nicht unter den Typus des echten Mystikers, der
immer Autist ist. Der Anblick einer zinnernen Schüssel muß wie bei Jakob
Böhme genügen, um jene Schwingungen der Seele hervorzurufen, die sich
bis zum Enthusiasmus steigern. Bei der Bestürmung der Wahrnehmungsorgane
und rezeptiven Erkenn Inisfunktionen mit komplizierten Kunsteindrücken
von der Außenwelt her faltet und krampft sich die mystische Seele
wie eine Mimose zusammen und verstummt. Der Allegrettosatz zertrümmert
das Gebäude, das beim Anhören des Andante vielleicht sich innerlich aufbauen
wollte. Der echte Mystiker ist selbst ein musikalisches Originalgenie, auch wenn
er die Kontrapunktik nicht beherrscht. Die innere Kunst seiner Tonsetzung
ist gleichwohl groß, er befolgt die Gesetze der Harmonielehre unbewußt, und
die Symphonien, die frei und unaufgezeichnet aus seinem Seelengrunde quellen,
beglücken ihn nicht minder tief als andere, eine systematisch aufgebaute Tondichtung
im Konzertsaal, deren Details unsere Aufmerksamkeit meist nur
streckenweise folgen kann. Fremden Gesetzen einer psychischen Evolution
folgen zu müssen, empfindet der Mystiker als unerwünschten Zwang. Das
systematisch geordnet vor ihm Entstehende gibt ihm keine Intuition, weil es
seine Spontaneität in Fesseln schlägt. Die Anstieg- und Höhepunkte, die Dauer
der Ausklangsstraßen wählt der Rhythmus seiner Seele anders, eigenwillig ur.d
individuell. Deshalb genügt der Subjektivität des Mystikers meist ein einziger
Akkord in Dur oder Moll, um eine ganze Serie von Erlebnissen daraus
erstehen zu lassen. Mystische Musik ist so primitiv, daß der Nichtmystikcr sie
überhaupt nicht für Musik halten würde. Deshalb erduldet der Mystiker oft
Qualen, wenn er nicht mit dem tönenden Schweigen in seiner Brust allein sein
kann. Denn das Schweigen von außen ist seiner Seele Lautwerden, und das
Lautwerden der Außenwelt, sei es noch so künstlerisch, ist seiner Seele*
Schweigen.

Das mystische Erlebnis der modernen Seele haftet, soweit es am Medium der
^Kunst erfolgt, nicht mehr an einer detaillierten und systematisch geordneten
Daislelhir.gsfolge, die mit impressionistischer Treue oder expressionistischer
Untreue eine breitangelegte Wirklichkeit reflektiert, sondern, wenn überhaupl
am intuitiven Blitz der künstlerischen Eingebung, die kein Bild mehr, sondern
etwa ein farbiges Erlebnis gibt. Ein Farbenkontrast, eine Linie von besonderer
Schwingung, halb geschlossene Lider im Marmor oder, um ins Reich des Akustischen
zu gehen, ein dumpfer Orgelton oder ferne Glockenschläge können
die mystische Seele rascher und unmittelbarer in Bewegung setzen, als ein
Allzuviel an verwickelten künstlerischen Impressionen, die dem schauenden
Organ eine Arbeit zumuten, der es einfach nich*, gewachsen ist. Die mystische
Psyche will absolut souverän sein und keinem Gesetzgeber von außen dienen.
Aus ihr selbst quellen die Gesetze ihres Handelns, ihre Leiden und Freuden,
ihre Impulse und Repulse. Wird sie beengt durch eine nicht von ihr geschaffene
Anschauungswelt, so erlahmen ihre Funktionen. Deshalb ist, so seltsam es klingen
mag, die Kunst und selbst die Musik kein glückliches Betätigungsfeld

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