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Bergmann: Die Evolution der mystischen Psyche
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für die mystische Psyche, die nur Anstöße braucht, aber keine Diktate, und die
in Schwingung gerät an einem Nichts, wenn es der Geist der Stunde gebietet.
Anders die Natur. Die Natur in ihrem gewöhnlichen Zustand vergewaltigt
niemals, sondern löst die Psyche und bringt sie zum Spielen. Di© Natur wird
von uns beseelt. Wir fühlen unsere Stimmungen in sie hinein und erleben sie
dann, als kämen sie aus der Natur. Die Natur ist also ein vollkommen geeignetes
Betätigungsfeld für die autistische Struktur der mystischen Psyche. Gewisse
eintönige Naturgeräusche, ein Säuseln im Aehrenfeld, das Rascheln und
Schleifen der Schilfgräser, die der Wind bewegt, das einsame Glänzen eines
Seespiegels in der Nachmiltagsbeleuchtung, blaue Wälder in der Ferne, der
Blitz einer Sense im Tal, die träumerisch spielende Meeresbrandung, das Funkeln
einer Blume in der Dämmerung und tausend andere Wahrnehmungsfragmente
, die uns die stets groß und rein sich regende Mutter Natur zusendet,
vollbringen in der Seele des modernen Mystikers rasch und leicht das Ersehnte,
dem Zurückfluß des Ich in das „Non Aliud". Mancher Virtuos des Naturer-
lebens könnte hier aus der modernen Literatur angeführt werden. Auch die
Mystik der hohen Berge gehört hierher und bildet ein Beispiel für die gesunde
Art dieser modernen Naturmystik. Vermöge der Einwirkung, die die dünne,
reine Luft der hohen Berge auf unsere Physis ausübt, steigert sich das Seelenleben
des Bergsteigers mit zunehmender Höhe. Das Erlebnis der Bergeinsamkeit
und -weite intensiviert sich mitunter zu psychischen Eruptionen, die das
Urteilsvermögen ausschalten und einen gefahrbringenden Rausch und Taumel
an die Stelle des vernünftigen Ueberlegens setzen. Nietzsches Zarathustra-Myslik
gehört hierher.
Das Schaffen der mystischen Psyche unabhängig \on religiösen Einstellungen
betrachten zu wollen, erscheint nun trotzalledem gewagt. Um wissenschaftliche
Erkenntnisse handelt es sich im mystischen Schauensakt nicht, um
künstlerische Schöpfungen, die in der Darstellung ihren Niederschlag finden
sollen, ebensowenig. Auch dem praktischen Leben dient die Mystik in keiner
Weise. Mystik ist eine Luxusangelegenheit unseres höheren Seelenmenschen.
Ihr Zwpck ist, auch wenn sie rein religiös erscheint, die Erringung höchster
seelischer Genüsse und Beglückungszustände und, wenigstens bei der modernen
Mystik, deren Verfolgung und Auskostung mit jener die Unterseele abtastenden
genießerischen Genialität und oft raffinierten Bewußtheit des modernen Menschentums
. Etwa auf physiologischem Umwege, durch Rauschgifte (Opium,
Kokain) sich die magische Erhöhung und Erweiterung des seelischen Lebensstatus
zu verschaffen, wird den echten Mystiker niemals reizen, wenn auch zugegeben
werden muß, daß die mystischen Ergriffenheitszustände stets und ausnahmslos
irgendwie auf physiologischen Ursachen beruhen, sei es auch nur insofern
, als unser körperlicher Mensch sich in einer gewissen Ruhe befindet und
von dieser Seite her keine Störung, etwa durch einen Schmerz oder ein Uebel-
befinden, zu erwarten ist. Der echte Mystiker ist Eudämonist, vielleicht könnte
main sagen Goetheaner, wenn man an den Gegensatz der Goetheschen Weltanschauung
zu der rigorosen Pflichtmoral Kants denkt. Die Durchführung
einer solchen Lebensauffassung wird dem Mystiker unter dem Druck ungünstiger
Verhältnisse nicht immer leichtfallen, wie denn überhaupt das arbeitsreiche
Pflichtenleben des modernen Menschen der Kultur der mystischen Psyche
höchst abträglich erscheint, gemessen an jener Beschaulichkeit, mit der der
mittelalterliche Mensch, zumal der Klosterbewohner, seinen Lebenstag hin-
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