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Zeitschrift für Parapsychologie. l.Heft. (Januar 1927.)
brachte. Auch die moderne Sport- und Kinobegeistennig entwickelt den Menschen
nicht als Seele. So werh oll Körperpflege auch sein mag, eine ihr an Bedeutung
gleichkommende SeelenpOege hat die moderne Menschheit nicht geschaffen
. Frühere Menschheiten haben auf diesem Gebiete viel intensivere
„Wege zu Kraft und Schönheit'* gesucht. Der moderne Mensch ist maschinisiert,
insoweit er im Berufsleben steht (vgl. Ernst Bergmann: ,,Der Geist des 19. Jahrhunderts
', Verlag Ferd. Hirt, Breslau, 1922). Die Zivilisation gebraucht ihn
hauptsächlich als Intellektualapparatur, die in den Wirtschaflsorganismus ein
gebaut ist, oft auch nur als stumpfsinnig mitlaufendes Rad in der Maschine
(Taylorsystem), fast nirgends aber als Seele. Der Mystiker aber ist ganz Seele
und nur Seele. Trotz und im Widerspruch zu der modernen Kulturlendenz
muß er suchen zu leben und, wenn ihm dies unter der Suggestion der öffentlichen
Meinung nicht gelingt, wird die blaue Blume seiner mystischen Seele
unter bitteren Schmerzen verkümmern und mit der Zeit abwelken. Die Prinzipien
einer mystischen Lebenskultur wird er aber auch dann nur kompromiß-
weisc durchführen können, wenn er durch allzu starke soziale Bande, wie Familie
, Beruf, Heimat, Besitz mit der menschlichen Gesellschaft verwachsen ist.
Vuch dieses Moment fehlte beim Typus des mittelalterlichen Mystikers, ebenso
auch beim Inder, wenigstens theoretisch fast ganz. Das mönchische Leben mit
seinem Grundsatz der Ehe-, Heimat- und Besitzlosigkeit galt im Morgen- wie
im Abendlande als unerläßliche Voraussetzung für die Evolution der mystischen
Psyche. Diese Lebensweise ist aber widernatürlich und uns modernen Menschen,
die wir im steigenden Maße auf die Erhaltung unserer gesunden Naturbasis
bedacht sein müssen, unsympathisch und undurchführbar. Wobei zu bemerken
ist, daß auch der christliche Mönch das Gelübde der Armut und Keuschheil zumeist
nur theoretisch erfüllt hat.
Die Sexualität, der Kern alles Lebens, ist auch der Grund des mystischen
Lebens. Der mystische Akt ist der in der Seele sublimiert vollzogene Akt der
geschlechtlichen Vereinigung im Symbol. Seelenleben ist immer maskulin oder
feminin, weil immer an ein Geschlecht gebunden Denn es erscheint nur im
organischen Wesen, und das organische Wesen ist niemals ungeschlechtlich.
Daher funktioniert die mystische Psyche im Manne anders als im Weibe, wie
man bei Eckhart und Tauler einerseits, bei Mechthild, Hildegard von Bingen,
Margarete Ebner, Elisabeth Stagel u. a. andererseits beobachten kann. Der Zug
^der mystischen Seele bei Meister Eckhart ist erobernder Drang. Erkämpft wird
der „übergotte Gott". Und ein Eckhartianer, der Verfasser des Traktats „Von
der Abgeschiedenheit" (vgl. Ernst Bergmann: ,.Deutsche Mystik", Verlag Ferd.
Hirt, Breslau, S. 09), will „einfangen das wilde Einhorn Gottheit". Die mystische
Seele der Eckhartianer erschwingt sich machtvoll in den mystischen Gegenstand,
\ergewaltigl und bändigt ihn, um dann in seiner grundlosen Tiefe zu \ersinken.
Anders der stillere, weichere Seelenbrand der geistlichen Frauen in der
deutschen Mystik, deren es sehr viele gegeben hat und zu denen auch Seuse gehört
, der zweifellos eine Frauenseele in sich trägt. Diese Psyche wartet. Sie
wartet, bis das „fließende Licht der Gottheil" zu ihr kommt und sir» überwältigt
. So die geniale Mechthild von Magdeburg. Ihre „Frau Seele" hat „das
Hemd der sanften Demut" angezogen, sie übt die christliche Tugend der
Humilitas und hat den Genuß der „heiligen Verschmähung". Bis die Stunde
in ihr steigt. Dann empfängt sie die Schläge Gottes und fühlt ihre Vollendung.
Der virtuose Seuse lebt beide Rollen, bald die aktiv-männliche, bald und zumeist
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