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Barthel: Theorie des Wachbewußtseins und der okkulten Zustände. 43
Eine Grundthese der neuen Einsicht lautet: Das Wachbewußtsein ist nur
«der eine Pol einer Zweiheit möglicher Bewußlseinszustände komplementärer
Art. Es läßt sich als praktisch-biologisches, ich-raum-zeilliches Bewußtsein charakterisieren
, da in ihm eine Ichzentrierung, eine räumliche und zeitliche De terminierung
als Grundlage der Wahrnehmungen zu betrachten sind. Die Wahrnehmungen
selbst aber werden nicht durch die Sinne geschaffen, sondern nur
vermittels der Sinne ausgewählt. Nicht das Auge sieht, sondern die „Seele"
siehl. Was die „Seele" ist, braucht gar nicht weiter definiert zu werden,,
da im Gegensatz von Sinneswerkzeug und Zentraleinheit des Bewußtseins ein
genügendes Verständnis dessen, was gemeint ist, ermöglicht wird. Auch wenn
es keine Seele „gibt", behält die Aussage ihr Recht: nicht die Sinne, sondern
das psychische Totalitätswesen ist Subjekt der Wahrnehmungen. Infolgedessen
kann man auch ohne Augen sehen, nämlich im Traum und in den weiter
zu erörternden anderen okkulten Zuständen. Die Sinne sind keine Produktionszentren
für Wahrnehmungen, sondern Selektionszentren
für Wahrnehmungen. Sie lassen die „Seele" gerade solche Dinge wahrnehmen,
die vermöge ihrer örtlichen und zeitlichen Nähe zum Ich eine biologische Bedeutung
für etwaige Reaktionen haben können. Dieses Prinzip Bergsons halle
ich für eine große Entdeckung. Nur durch es kann man sich vom Vorurteil
der Wahrnehmung durch die Sinne freimachen. Nicht die Sinne nehmen wahr,
sondern die Seele. Und zwar erlebt diese im Wachzustande solche Auswahlphänomene
, wie sie durch die Sinne vermittelt werden, weil sie biologisch
von Interesse sind.
Im Wachzustand ist die Ichraumzeillichkeit Fundament der Wahrnehmung,
die Qualität der Wahrnehmung dagegen erhebt sich auf diesem Fundament.
Wir werden gleich sehen, daß es sich bei den okkulten Zuständen nicht so verhält
, und deshalb ist die Feststellung wichtig. Ob und was ich im Wachzustand
wahrnehme, hängt davon ab, an welchem Ort sich mein Leib, als Träger der
biologischen Entwicklungsrealitäl, befindet, in welchem Zeilpunkt er an diesem
Ort seine Sinne öffnet oder anstrengt, auf welche Punkte er seine interessierte
AufmPiksamkeit lenkt. Das biologische Ich, der Ort, der Zeitpunkt und die
Bewegungs- und Aufmerksamkeitsreaktionen, in denen sich Räumliches und
Zeitliches ichbezüglich durchkreuzt — diese gleichsam formalen Grundlagen
tragen alles Wachbewußtsein. In sie „hinein" kommen dann sozusagen als
Inhalte" oder „materiale Bestimmtheiten" die wahrgenommenen Qualitäten,
seien es optische oder akustische, taktile oder sonst sensorische Wahrnehmungs
komplexe, seien es von Gedächtniserinnerungen durchsetzte Wahrnehmungskomplexe
, durch deren bewußtes Erlebnis wir auch die Zukunft einigermaßen
vernünftig zu beherrschen suchen, oder seien es „Gedanken", das heißt recht
komplizierte Gebäude wahrnehmungsferner Empirie, in denen sich eine ganze
Welt von Wahrnehmung, Gedächtniswissen und Zukunflsteleologie wie in
stenographischer Abkürzung verschmolzen zeigl. All diese psychischen Gebilde
des Wachbewußtseins, denen man noch etwa den Willen und das Gefühl, wenn
man gutmütig ist, als weitere Phänomenabgrenzungen im Wachbewußtsein anfügen
kann, sind ab Phänomene empirischer Zweckmäßigkeit anzusprechen. Sie
beruhen samt und sonders auf dem ichraumzeitlichen Fundament biologischer
Bedeutungshaftigkeit und enthalten das qualitativ Eigenartige immer nur als
sekundäres Moment, als das zufällige Sosein im festgefügten Rahmen der wachen
Apperzeptionsform.
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