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Zeitschrift für Parapsychologie. 2. Heft. (Februar 1927.)
Geschichte sehen wir eher eine Art Degeneration. „Es wechseln wohl große
Magier mit kleinen, wechseln Zeiten, in denen die Magie das gesamte Leben
beherrscht und durchtränkt, mit anderen, wo sie zurücktritt; aber irgendein
Fortschritt in unserem rationalistischen Sinne läßt sich nirgends aufzeigen. Es
scheint fast, als wäre die Menschheit zu irgendeiner früheren Zeit im \ ollbesitz
der magischen Fähigkeiten gewesen und seitdem lediglich von dieser
Höhe abgesunken. Wie der Mensch auf jenen hohen Grad gekommen war,
entzieht sich völlig unserer Kenntnis. Jedenfalls scheitern hier alle Theorien
von dem stetigen „Fortschritt" im Weltgeschehen .. . Was wir klar aufzeigen
können, ist also nur die Geschichte der Degeneration der Magie. Und diese
Degeneration wiederum fällt zusammen mit der allmählichen AuskristaJli-
sierung jener Haltung .. ., die im heuligen Europa aiolleicht ihren Höhepunkt
gewonnen hat. Je mehr sich ein Volk diesem europäischen * Zustand annähert,
desto mehr flaut sein magisches Vermögen ab und erstarren seine magischen
Aeußerungsformen .. . Was den europäischen und damit überhaupt den
„späten" Menschentypus charakterisiert, ist sein Mangel an Gefühl für das Konkrete
, „Leibhafte*". Er erlebt die Körperwelt nicht mehr als ein Wesenhaftes
und Gehaltvolles, und so fehlt ihm jeder Sinn für die tiefere Bedeutung des
Gestalthaften, Wirklichen. Man sagt zwar immer, der Europäer verfüge über
einen besonders ausgesprochenen „Wirklichkeitssinn, Tatsachensinn" usw. Genauer
betrachtet aber sieht er an der „Wirklichkeit" und den „TalSachen"
immer \orbei, und was er in Händen behält, sind leere Schemen. Der ganze
Materialismus und Rationalismus unserer Tage schlägt jedem tieferen Wirk-
lichkeits- und Tatsachensinn geradezu ins Gesicht."
Iiier wird zum erstenmal, soweit ich sehe, in der Literatur festgestellt, daß
alles, aber auch alles, was uns >on Magie je historisch zugänglich wurde, ein
Torso ist, von dem das fehlende Haupt und die Glieder — anderswo liegen und
vergraben sind. Dieses Anderswo habe ich in meiner Studie „Urwelt, Sage
und Menschheit" schon aufzudecken \ersucht und gezeigt, daß der Platz, wo
man zu graben hat, in erdgeschichtliclier Ferne liegt, bei einem Urmenschen,
der im Grunde aber nicht unbekannt ist, weil ihn die echten Sagen und Mythen
nicht nur körperlich, sondern noch mehr seelisch schildern. Ergebnisse der vergleichenden
Paläontologie, zusammengehalten mit den freilich von einem entsprechenden
Geist erfaßten uralten Menschheitsüberlieferungen lassen erkennen,
daß der Stamm des Menschen nicht ein spätes Entwicklungsprodukt der Natur
ist, sondern in tiefe erdgeschichtliche Epochen hinabreicht und in einer \on
Epoche zu Epoche körperlich und seelisch veränderten Gestalt in jenen Urzeiten
schon physisch da war und auch der wahre Magier in ganz verschiedenen
Graden des Wachbewußtseins gewesen ist — der Mensch, den nun die neuere
Erkenntnis, wie eben gezeigt, gerade sucht. Dieser Mensch war zuerst „nalursichtig
", in einer wohl geradezu naturhaft-somnambulen Weise, um später mit
der erdgeschichtlich gleichfalls nachweisbaren, allmählichen Zunahme des Großhirns
mehr und mehr bewußt, hellsichtig und zuletzt intellektuell zu werden.
In jener alten Eigenschaft der Natursichtigkeit aber lagen die Quellen jener
rein magischen Welteinstellung und natürlichen Fähigkeit zum Zaubern, von
der alles Spätere uns wie Degeneration anmutet und es in gewissem Sinne auch ist.
Die anatomischen Eigenschaften jenes Urmenschen bestanden vermutlich
vor allem im Besitz von Organen des Gehirns, die wir in Resten heute noch
bei uns finden, die aber inzwischen vom intellektualen Großhirn so über-
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