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Zeitschrift für Parapsychologie. 2. Heft. (Februar 1927.)
ihre Behauptung mit den Worten begründet: ,,Ich kann mir wenigstens nicht
vorstellen, daß sich die Seele mit derartigen Scherzen abgeben sollte/' Als ob
der Weltengeist ausgerechnet auf Dr. N. gewartet hätte, um an ihm einen Maßslab
für die Fülle seiner Möglichkeiten zu haben und sich ja nicht an Dinge
heranzuwagen, die dieser Dr. N. nicht begreift! Da war der Berliner Professor
Dr. Jordan, der sich am 2. September desselben Jahres im „Berliner Tageblatt"
über das gleiche Thema ausließ, viel vorsichtiger, weil philosophisch geschulter.
Er erinnerte sich am Schluß seiner durchaus rationalistischen Ausführungen,
nachdem er unmittelbar zuvor die auf Telepathie beruhenden Wahr träume als
wissenschaftlich nicht nachprüfbar (?) abgetan hatte, noch an Kant und
schloß fast ein wenig sprunghaft mit den Worten: „Kann im Traum auch die
Zeit übersprungen und ein Toraussehen in die Zukunft Platz greifen? Die
Frage ist nicht ohne w eileres eine unsinnige, da ja der Zeilbegriff,
wie wir ihn oberbewußt haben, dieses Nacheinander der Ereignisse, nach Kant
nur eine Form unserer Anschauung ist, während die Verknüptung
und Anordnung der einzelnen Zeitpunkte in Wahrheit vielleicht eine andere
ist, von der unser Ich sich keine Vorstellung machen kann." Es hätte der Besinnung
auf Kant und seine Lehre von der Subjektivität aller Erkenntnis gar
nicht bedurft, um an die Notwendigkeit der Verlangsamung des oft recht
übereiligen Tempos gewisser Urleile und Behauptungen erinnert zu werden.
Man kann ruhig die Erscheinungswelt als objektive „Wirklichkeit" oder
als „Ding an sich" nehmen und doch za der Einsicht kommen, daß man
vom Weltgeschehen und namentlich vom Geschehen im Innersten der Dinge,
auch in sich selbst, eigentlich recht wenig versteht. Vor etlichen Jahren kaufte
einer meiner Bekannten von einem Würzburger Züchter einen Hund und ließ
ihn sich mit der Bahn zusenden. Die Entfernung war etwa 200 Kilometer.
Kurze Zeit darauf nahm der Hund eines Abends Reißaus und kehrte zu seinem
früheren Herrn nach Würzburg zurück. Nach i3 Stunden traf er dort ein,
er hatte also, wenn er der Bahn entlanglief, in der Stunde i5 Kilometer zurückgelegt
, wenn er die gerade Linie einschlug, etwa 10 Kilometer. Woher hatte
der Hund seine geographischen Kenntnisse? Wer hat ihm die Wegzeiger
vorgelesen und ihren Inhalt in seine Hundesprache übersetzt? Dr. N. wird
•ich schwerlich vorstellen können, wie das zuging. Und doch erlaubt sich die
Hundeseele „solche Scherze" alle Tage. Was wir unser Weltbild nennen, ist
e^en nicht das Weltbild, sondern nur ein bescheidener Ausschnitt davon. Das
sollten wir uns jeden Morgen, Mittag und Abend eindringlich ins Bewußtsein
rufen, damit wir nicht in Versuchung geraten, unseren Verstand, auf den wir
uns — zuweilen mit Recht — etwas zugute tun, für den Maßstab aller Dinge
zu halten und ihm zuliebe gewisse Tatsachen zu leugnen, bloß deshalb, weil er
sie nicht begreift. Das gilt vor allem auch von einer gewissen Art von Träumen,
die oft au» ganz anderen Regionen kommen, als aus der „Abfallgrube ungelöster
Komplexe" unserer Nur-Psychoanalytiker oder aus dem wirren und phantastischen
Nachzittern von Erregungen des vergangenen Tags in den nächtlichen
Halbschlaf hinein, aus dem sie Dr. N. und seinesgleichen restlos aufsteigen
sehen. Die Alten, die noch Zeit zu ruhiger und unbefangener Betrachhmg der
Erscheinungsweit hatten, weil sie noch nicht von der Unrast des Vielerlei von
heute umgetrieben und gequält und als Kinder schon systematisch in wissenschaftliche
Systeme verdrahtet und verkalkt wurden, die dem Geist nur noch
einen einseitigen und schmalen Ausguck lassen, sahen in den Träumen nicht
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