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Symbol werden. Ich habe seit einem Jahr Gelegenheit zur Beobachtung einer
I4Yau gehabt, die — in ihrem Traumleben genau so veranlagt wie Frau W. —
am hellen Tag und mitten in der xirbeit von solchen symbolischen Bildern
g< radezu überfallen wird. Das erstemal war das Auftreten der Bilder mit anscheinend
vom Rückenmark ausgehenden Schmerzen verbunden, denen eine
große Wärme von den Füßen her folgte, worauf alsdann die Vision eintrat.
Jelzt künden sie sich nur noch durch die Wärme und ein allgemeines, nicht
näher zu beschreibendes Gefühl an. Dieses ist aber von solcher Wucht und Beharrlichkeit
, daß es jeden bewußten Widerstand überwindet. Die Frau hat sich
dorn visionären Ansturm schon tagelang widersetzt, wurde von ihm dann aber so
hartnäckig verfolgt, bis sie sich schließlich ergeben und den Bildern den Lauf
lassen mußte. Das Zimmer, in dem sie steht oder sitzt, verschwindet alsdann,
und an seine Stelle tritt eine ganz neue Umwelt. Zuweilen ist es ihr anfänglich
, als entferne sie sich aus ihrem Körper und träte eine schwebende Reise
durch unbekanntes Gebiet an, bis sie sich dann plötzlich sehr ferne fühlt, wo
an die Stelle der bekannten oder gewöhnlichen Landschaftsbilder die symbolischen
Bilder treten, die von geradezu apokalyptischer Bildkraft sind. Bild
reiht sich dann an Bild wie im Lichtspielhaus. Manchmal lassen die Bilder eine
unmittelbare Deutung zu, manchmal kann man einen Sinn ungefähr ahnen,
meistens aber bleiben sie ein unentwirrbares Rätsel. Man kann sich dabei des
Kindrucks nicht erwehren, als wollte irgendein kosmischer Riese zu einem
kleinen Menschenkind über Dinge reden, für welche die Menschensprache keine
Ausdrucksmittel besitzt, so wie wenn man einen Blinden über die Farbe belehren
oder mit einem ungeschuiten Taubstummen durch Zeichen verkehren
sollte. Oder es ist, als bekäme man Einblick in das Vorstadium größter
Gedanken, die noch im Bilde stecken und sich vorläufig nur als Symbole ins
Bewußlsein zu projizieren vermögen. Die Visionär in ist bei dem ganzen Vorgang
, den sie durchaus als Wirklichkeit empfindet und dem sie ganz objektiv
gegenübersteht, dennoch rein passiv, sjferne ihr Wille nicht den geringsten
Einfluß auf seine Entstehung, seinSh Inhalt und seinen Verlauf hat. Ich erwähne
diesen Fall nur vorläufig und nebenbei, weil er ein gewisses, wenn auch
bescheidenes Licht in jene geheimnisvolle Seelenregionen wirft, aus denen die
symbolischen Träume aufsteigen und in denen unsere Gedanken werden.
Jn diesen Regionen, in denen das geistige Geschehen noch nicht in einem räumlichen
und zeitlichen Neben- und Nacheinander fein abgeteilt und dosiert auf
geordneten Nervenbahnen verläuft, scheint noch ein mehr oder weniger allgemeines
Ineinander- und Umeinanderwissen in chaotischer Unmittelbarkeit,
aber mit einem immanenten Ordnungs- oder Gestaitungsbestreben, zu herrschen.
Was man gemeinhin Denken* heißt, ist ja bekanntlich in seinen Anfängen nur
ein Beobachten der aus der Psyche aufsteigenden Formen und Bilder, die sich
mit einer sogenannten „empirischen Zweckmäßigkeit*' an die Umstände und an
die Umgebung geschmeidig anpassen. Soweit dieses Beobachten im wachen
Zustand bewußt und gewollt geschieht, ist die Anpassung meist schon ziemlich
stark vorangeschritten und die Plastik und Farbenpracht der Bilder in der
Hegel schon stark erschöpft, das heißt durch den Apperzeptionsprozeß ins
Gedankliche übergeleitet. Nur ausnahmsweise behalten besonders veranlagte
JDenker ihre vorbegrifflichen Bilder bis zum Ablauf des Denkprozesses unmittelbar
vor sich. Der Traum ist nun nichts anderes, als ein solches ungewolltes
Vorstadium des Denkens, ?ine Inbewegungsetzung des Gestaltungsbe-
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