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Zeitschrift für Parapsychologie. 3. Heft. (März 1927.)
Giemen zum täglichen Gebrauche schenkten, schrieb er mir zu meiner Freude in
mein Buch hinein: „Aus jedem Winkel kann man sich zum Himmel erheben!'*
Wenn dieses Wort \on Seneca auch wahr ist, so versuchte ich doch ihn zu bewegen
, gerade am Karfreitag, der uns bevorsland, die Kirche zu besuchen und
erhielt nach langen Erörterungen die Zusage*. Der Krankenhausgeistliche viurdo
benachrichtigt, ohne daß der Patient dies ahnte. Der Karfreitag brach an. Ich
stellte mich im Krankenhause ein und holte den Gelähmten ab, der Diener
schob ihn im Rollstuhl in die Kapelle des Krankenhauses und wir setzten uns
auf die Bank neben seinen Herrn. Der Anstallsgeislliehe sprach wundervoll,
wie geschaffen für den Hoffnungslosen, der immer gespannter zuhörte, dann
sichtlich gepackt und ergriffen wurde, bis ihm helle Tränen über die Wangen
liefen. Später dankte er mir für diese ergreifende Stunde, in welcher er seinen
Kinderglauben wiedergefunden und neugestärkt zurückerhalten hatte. Er versprach
mir nun, den Gottesdienst wieder öfter zu besuchen.
Es war selbstverständlich, daß wir nach diesem Gottesdienst immer wieder
auf die inhaltsreiche Predigt zurückkamen. Meine Badekur vu»r beendigt und
meine Abreise >on W. stand lj^vor und ich mußte den Kranken., zwar in bester
Pflege und Hut, aber allein zurücklassen. Da ließ er mich beim Abschied noch
einen tiefen Blick in sein gequältes Inneres tun: „Gibt es wirklich ein Fortleben
nach dem Tode und ein Jenseits?" Wie oft hatte sich dem Schwerkranken wohl
in einsamen Stunden und schlaflosen Nächten diese bange Frage mit Hoffen
und Zweifel aufgedrängt, und doch wußte er alles so gut wie ich, >\as für eine
Bejahung dieser großen Frage sprach.
Was sollte ich ihm antworten, das ihm mehr Ruhe brächte? Nach einiger
Ueberlegung schlug ich ihm vor: „Sie sind krank und ich bin es auch oft,
wollen wir uns heute das Versprechen geben, daß derjenige, der von uns zuerst
stirbt, dem andern einen Beweis geben soll, daß es ein Jenseits und ein Forlleben
der Seele gibt? Es muß ein Zeichen sein, das den andern weder erschrickt
noch ängstigt, es muß ein um erkennbarer, glückauslösender und unanfechtbarer
Beweis sein/'
Wir reichten uns die Hände und gaben uns dieses feierliche Versprechen
und ich reiste meiner Heimat entgegen.
Monate vergingen. Der Kranke schrieb öfter kurze Briefe und zeichnete
zu meiner Verwunderung im Laufe der Zeit ab und zu auf dem Rande seines
^riefbogens das Profil eines Männerkopfes, das ihm entschieden ähnelte und
eine Blume, die einer noch nicht aufgeblühten, geschlossenen Tulpe glich. Dann
wurden seine Mitteilungen nach und nach weniger klar und seine Handschrift
undeutlicher. Was er sich bei den Randzeichnungen gedacht hatte, blieb mir
unerklärlich und ich scheute mich ihn zu fragen, da ich inzwischen \on anderer
Seite die Nachricht erhalten hatte, daß sein Geist sich allmählich umnachte und
sein Zustand sich verschlimmert habe.
Der arme Dulder und prächtige Mensch starb schließlich in einer Anstalt
und ich dankte Gott für seine Erlösung aoü allem Erdenleid, als ich die Todesnachricht
erhielt. Merkwürdigerweise fiel mir aber nicht unsere ehemalige Verabredung
ein, vielleicht wegen seines Aufenthaltes in dej geschlossenen Anstalt
und weil sein Geist Jahr und Tag verdunkelt war — oder sollte ich nicht daran
denken, um mich nicht zu „fürchten*? Dem sei, wie ihm wolle, Tatsache ist.
daß ich nicht bei der Todesnachricht unseres gegenseitigen Versprechens gedachte
, oligleich es mich in Monaten vorher noch stark beschäftigt hatte.
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