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H%: Erdärung eines merkwürdigen Erlebnisses.
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Erklärung eines merkwürdigen Erlebnisses.
Von Johannes Iiiig.
In der Januarnummer findet sich ein von Dr. E. Mattiesen, Rostock, mitgeteiltes
Erlebnis seiner Frau, das er zu deuten versucht. Diese sah im Zustand
geistiger Passivität oder im Ilalbschlummer eine formlose Gestalt auf dem vor
ihr sich erhebenden Dach, die nach dem auf der andern Seite des Hauses vorbeifließenden
Ilafenstrom zeigte. Die Vision war mit dem blitzartigen Eindruck verbunden
, daß sich ein ihr bekanntes Nachbarkind auf der Bootsbrücke befinde, die
Erscheinung also nicht ihr. sondern dem Kind gelte. Wie sich später herausstellte
, wurde das Kind zu jener Zeit von seiner Mutter auf dem Steg gefunden
und hätte leicht ins Wasser fallen können. Dr. Mattiesen wägt nun tdie verschiedenen
Deutungsmöglichkeilen gegeneinander ab und gibt der spiritistischen den
Vorzug.
Meiner Ansicht nach läßt sich der Vorgang aus der Natur des Psychischen
verhältnismäßig einfach erklären, ohne daß man „Geister" zur Hilfe zu nehmen
braucht. Die Visionärin sah, „wonn sie sich ihrem inneren Sehen überließ",
d. h. wenn sie sich passiv machte und ihre Träume spielen ließ, sie sah aber
nicht, wenn sie sich ermunterte und scharf nach dem Dach hinsah.
Der ganze Vorgang war ako traumhafter Art und muß aus der Eigenart der
Träume heraus verstanden werden. Nun bedarf es aber in einer Zeitschrift für
Parapsychologie wohl keines Beweises mehr für die Tatsache, daß die Psyche im
Zustand des umdämmerten Wachbewußtseins einen größeren Aktionsradius hat,
als im offenen Wachbewußtsein, und daß sie da zuweilen in Zusammenhange
gerät, für die der raumzeitliche Rahmen nicht mehr zu bestehen scheint. Es darf
dies auch im vorliegenden Fall angenommen werden. Dies vorausgesetzt, ist die
Entstehung der Vision nicht anders zu deuten wie die Entstehung eines symbolischen
Traumes, der dem Wachbewußtsein ein unterbewußtes Wissen vermitteln
will. Ich habe an einem andern Ort auf die Zielstrebigkeit der Träume hingewiesen
und u. a. einen \\ achtraum^erzählt, in dem ich mich in einem Brettergehäuse
wähnte, dessen Wände sich immer enger zusammenzogen und mich zu
erdrücken drohten. Durch den aufregenden Widerstand gegen die Wände er-
>\ achte ich genau zu der Stunde, an der ich mir am Abend zuvor mit einiger
Besorgnis vorgenommen hatte aufzustehen, um rechtzeitig auf den Zug zu kommen
. Im Schlaf zustand hatte meine Psvche Kenntnis von der Zeit erhalten und
durch einen symbolischen Traum hatte sie mich geweckt und mir ihr unterbewußt
erlangtes Wissen zum Bewußtsein gebracht. Das ist nun einmal so die
Funktionsweise des Psychischen im Traum, und es macht dabei keinen Unterschied
aus, ob der psychische iMechanismus im Traum der $acht oder im Halbschlummer
eines sonnigen Augusttages abläuft. Die auf Hellfühlen beruhende
Vision der Frau M. erklärt sich sicher auf die gleiche Weise. Sie erfühlte in
ihrem Halbschlummer die kritische Situation des ihr bekannten Kindes und geriet
dadurch in einen Zustand unterbewußter Reizung, die sich nicht bis zum
klaren Wachwissen, wohl aber bis zu dessen Vorstadium, dem symbolischen
Traum, hindurchzuringen vermochte. Das zweckmäßige dabei beschränkt sich auf
die Funktion des psychischen Mechanismus. Darüber hinaus fragt man sich meist
\ergeblich nach einem Sinn oder Zweck solcher Visionen oder Träume. Ihre
Erklärung ist in der Regel im rein Kausalen zu finden. Wo der Anschein einer
vorhandenen Teleologie vorliegt, hält sie einer strengen Prüfung nur selten stand.
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