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Zenker: Das selbsterlebte Phantasma eines Sterbenden.
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manchmal gruselig vorkam. Alle Versuche, den Spuk zu bannen, waren
erfolglos. Sobald man das Zimmer betrat, war alles still und ruhig. Einst
saß ich zur Winterszeit mit drei anderen Angehörigen der Familie in dem
Wohnzimmer, das über dem Spukzimmer lag. Draußen heulte ein Schneesturm
um die Fensler, während der offene Kamin eine mollige Wärme verbreitete
. Ueber dem Kamin hing ein altes Oelbild, das einen hageren Geistlichen
im Gewände der Domherren vor etwa i5o Jahren darstellte. Scharf geschnitten
waren seine Züge und mit seinem Adlerblicke sah er jedermann fast durchbohrend
an. Es war ein Mitglied der Familie des Vorbesilzers, der Domherr
und Kanonikus an der nicht sehr weit entfernten Kathedrale gewesen war. Man
nannte ihn allgemein nur den „Onkel Domherrn". Wir vertrieben uns die
Zeit beim Kartenspiele und merkten gar nicht, daß es schon reichlich spät
wurde. Plötzlich schlug die alte Standuhr langsam und bedächtig zwölf
Uhr Mitternacht. Als der letzte Schlag verklungen war, geschah plötzlich
etwas Unerwartetes. Das Bild vom Onkel Domherrn fing an, an der Wand
hin und her zu schwanken, um dann im nächsten Momente mit Donnergepolter
auf den Boden zu stürzen. Als wir uns von unserem Schrecken erholt hatten,
hingen wir das Bild wieder an seinem Platze auf, da der schmiedeeiserne Haken
des Bildes noch bombenfest in der Wand saß. Aber Onkel Domherr hatlc
anscheinend keine Lust auf seinem Platze zu bleiben. Nach wenigen Minuten
geriet das Bild wiederum in eine pendelnde Bewegung, um nach einigen
Augenblicken noch einmal zu TBoden zu stürzen, wobei es diesmal aber mit
einer Kante so aufschlug, daß es nach hinten überkippte und auf die glühenden
Kohlen des Kaminfeuers fiel. Bevor wir uns von unserem Schrecken erholen
konnten, hatten die gierigen Flammen das trockene Holz des Rahmens und die
alte Leinewand verzehrt, und wir standen vor rauchenden Trümmern. In eigenartiger
und furchterregender Weise war „Onkel Domherr" untergegangen,
von lodernden Flammen verzehrt, und merkwürdiger Weise hörte mit seinem
Untergange auch der Spuk in dem darunter liegenden Zimmer auf. Der
Bilder haken saß aber auch jetzt noch so fest, daß er bei einer Umänderung
des Zimmers von einem Maurer herausgebrochen werden mußte.
Aus alten Familien auf Zeichnungen konnten wir noch feststellen, daß
„Onkel Domherr" und sein Brevierbeten genau an dem Tage ihr Ende gefunden
hatten, an dem der alte würdige Herr mit dem Adlerblicke vor 100 Jahren
das Zeitliche gesegnet hatte ...
Das selbsterlebte Phantasma eines Sterbenden.
In den ersten Jahren meiner beruflichen Tätigkeit praktizierte ich in
Lichtenstein, einem etwa in der Mitte zwischen Zwickau und Chemnitz reizend
am Fuße des Erzgebirges liegenden Städtchen. Die Umgebung besaß zahlreiche
Kohlenschächte. Meine Eigenschaft ah Knappschaftsarzt führte mich fast
täglich in die nahegelegenen Dörfer, in denen die meisten Bergarbeiter wohnten.
So wurde ich einmal nach dem Ort Rödlitz zu einem gewissen Schubert gerufen
, der — ich muß das ganz besonders hervorheben, aus Steiermark zugezogen
war, und an seiner heimatlichen von der hiesigen Grubenarbeilerkleidung
völlig abweichenden Tracht festhielt. Er litt an einer eitrigen Rippenfellentzündung
. Er hatte ^or Jahren eine Schuß Verletzung bekommen und das
Projektil saß noch immer nahe der Wirbelsäule zwischen zwei Rippen. Eine
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