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Redcüngius: Beitrag zur Geisterhypothese
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verschiedenen gruppenweise lebenden Tierarten, so z. B. bei einer gewissen Raupe,
hat man solche Phänomene als normale Lebensäußerungen konstatiert.
Auf einer solchen psychischen Yerschmelzung in früheren Zeiten beruht auch
das Dasein des ein ganzes Volk seit vielen Jahrhunderten vollständig beherrschenden
Geistes bei verschiedenen Gattungen von Bienen, Ameisen und Termiten
. Während damals die Ahnen dieser Insekten entschieden nicht staatsbürgerlich
gelebt haben, fehlt jetzt, besonders bei einigen Termitengaltungen, dem
einzelnen Individuum durchaus die Möglichkeit selbständiger Existenz. Mit
Recht vergleicht Maeterlinck (La vie des Termites, 1927) diese heteromorphen
Scheinindividuen mit den verschiedenartigen Zellen unseres Körpers, ihren Staat
mit unserem Körper selbst, und schließlich ihren sich in der Ganzheit des Staates
verkörpernden, führenden Geist mit unserer Ichheit.
Unser bewußtes Denken ist, weil dabei stets an Ganglienzellen und Asso-
ziationsbahnen gebaut und abgeändert wird, dynamisches Wirken unseres Bewußtseins
, indem dessen das Denken ermöglichende statisches Wirken das in
unserem Körper lokalisierte potentielle Erinnern ist. Stirbt irgendeine Tierart
aus, dann sieht man diese nicht wieder entstehen. Der betreffende Wunschkomplex
hatte eine lange Werdensgeschichte hinter sich und hat seine letzte
Individuen nur vermöge seiner sich forterbenden, stufenweise abgeänderten,
statischen Wirkungen formen können. Folglich ist mit dem letzten Individuum
das Erinnerungsvermögen dieses Komplexes verschwunden. Hat, mittels seiner
Phantasie, ein Wunschkomplex, der früher ein im Wasser lebendes Tier geformt
hatte, die Körper dem Landleben angepaßt, und wählt er später als deren Wohnort
abermals das Wasser, dann bewirkt der Wunschkomplex, offenbar weil er
die Bauweise der früher fürs Wasser geeigneten Organe vollständig vergessen
hat, mit Hilfe der Phantasie eine ganz neue Modifikation der Organe.
In alledem hat man einen zureichenden Grund für die Vermutung, daß,
wenn unser Gehirn vernichtet ist, unser persönliches Vermögen, sich an etwas
zu erinnern, ebenfalls verschwunden ist. Wäre es dann wahrscheinlich, daß ein
allmählich in Verbindung mit seinem*Körper entstandener Wunschkomplex, der
diesen Körper verloren hat und kein Erinnerungsvermögen und folglich kein
Denkvermögen besitzt, fortbesteht? Was nicht dynamisch oder statisch wirkt,
ist für uns nicht da und existiert vielleicht überhaupt nicht, in welchem Falle
die Natur das genaue Maß des Allgeistes wäre. Die Behauptung mehrerer Seance-
geister, daß sie aus einer anderen uns unbekannten Elementarwirkung, z. B.
einem Aether, sich einen neuen Körper gebaut haben, ist für uns wertlos, weil
sie dem Glauben lebender Spiritisten entlehnt sein kann.
Es scheint aber, daß nach dem Tode ein unerfüllter Wunsch, dadurch daß
er wirkt (spukt), einige Zeit lang fortbestehen kann und daß ihm gelegentlich,
durch „Anschluß ans Absolute", ebenso wie menschlichen Hellsehern, die potentiellen
Erinnerungen Lebender zur Verfügung stehen. Daß er sich so leicht im
Allgeist das zutreffende aussuchen kann, ist nicht erstaunlicher als daß wir in
unserer Ichheit die benötigten Daten meistens so schnell finden. Liegt es dann
nicht auf der Hand, daß so ein zu einem Geist anwachsender Wunsch, in Ermangelung
eines eigenen Erinnerungsvermögens, sich aus den Vorstellungen, die
die in Betracht kommenden Lebenden von ihm haben, eine eigene Vergangenheit
zurechtmacht?
Mit dieser Einschränkung, daß unser träumendes Bewußtsein sich bisweilen
früher geträumter Ereignisse, die das wache Bewußtsein inzwischen als nicht
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