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Zeitschrift für Parapsychologie. 8. Heft. (August 1927.)
Ich brauche dem Leser dieser Zeitschrift wohl kaum zu sagen, daß Parapsychologie
und Spiritismus zwei verschiedene Dinge sind. Die Parapsychologie
ist eine Wissenschaft, welche ein bestimmtes Gebiet empirischer Erscheinungen
studiert. Der Spiritismus ist eine besondere Hypothese, erfunden zur Erklärung
dieser Erscheinungen. Die Beziehung zwischen der Parapsychologie überhaupt
und dem Spiritismus ist genau dieselbe, wie die zwischen der biologischen Abstammungslehre
überhaupt und der besonderen Hypothese, welche Darwinismus
heißt.
Der Spiritismus muß natürlich, wie jede Hypothese im Bereiche jeder
empirischen Wissenschaft, von gewissen bekannten Tatsachen ausgehen
. Er ist ja eben erfunden worden, um diese Tatsachen in dem obengenannten
Sinne des Wortes zu erklären, und er würde gar nicht als eine Hypothese
existieren, gäbe es jene Tatsachen nicht.
Was sind nun jene wissenschaftlich festgestellten Tatsachen, welche ursprünglich
zu der spiritistischen Hypothese geführt haben? Mit anderen Worten:
Welche unter den bereits bekannten Tatsachen der Parapsychologie waren von
solcher Art, daß gewisse Forscher glaubten, der Spiritismus allein könne sie
erklären, oder könne sie wenigstens besser, d. h. weniger künstlich erklären als
irgendeine andere Theorie?
Wir dürfen nie vergessen, daß wir hier ja einen methodischen, nicht einen
sachlichen Aufsatz schreiben. Wäre das letztere der Fall, so könnten wir einfach
in systematischer Ordnung all die Tatsachen aufzählen, welche nach unserer
Meinung zugunsten des Spiritismus sprechen1). Da aber die Methodologie
unser Gegenstand ist, und da der Spiritismus uns nur als ein Beispiel dienen
soll, um zu zeigen, was eine gute Methode ist, so haben wir der Reihe nach
drei Dinge darzulegen: Zunächst die Tatsachen, von denen der Spiritismus
ausging, sodann ihn selbst und endlich alle seine Folgen und,
wenn möglich, deren Bewahrheitung.
Es scheint mir nun, daß der Spiritismus als eine wissenschaftliche Hypothese
— natürlich nicht als eine Art Glaube — historisch von zwei Gruppen von Tatsachen
seinen Ausgang genommen hat: Vom auswählenden Gedankenlesen
und von den Kreuzkorrespondenzen.
Unter au swählendem Oedankenlesen, das sich stets mit einem
personifizierenden kombiniert, verstehe ich die Tatsache, daß manche
Medien, wie z. B. Frau Piper und Frau Leonard, ihr Gedankenlesen in folgender
Weise ausführen: Sie „lesen" die eine Tatsache aus der einen Seele und
die andere aus der anderen, unbekümmert um die Anwesenheit oder Abwesenheit
dieser Seelen und auch unbekümmert um die Tatsache, ob das, was sie „lesen",
in der Seele bewußt gegenwärtig ist, als ein Gedächtnisbild, oder ob es nur in
ihrem Unterbewußtsein existiert, also tatsächlich „vergessen" ist. Und dann
setzen sie alle Einzelheiten, welche sie auf diese Weise aus verschiedenen
Seelen heraus erlangt haben, aus anwesenden und abwesenden, aus bewußten
oder unterbewußten, in einer Weise zusammen, als ob alles der bewußte Besitz
eines bestimmten Verstorbenen wäre. Die Spiritisten sagen hier nun:
Dieses sogenannte Gedankenlesen war gar kein „Gedankenlesen" im üblichen
Sinne, es stammte nicht aus einer übernormalen Fähigkeit des Mediums, sondern
das Medium war hier im wahren Sinne des Wortes eine „Mittelsperson", und
!) Das geschieht in dem Vortrag „Parapsych. und Philosophie" dieser Zeitschrift.
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