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Driesch: Parapsychologie und Philosophie.
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z.B. in den Versuchen Dr. Pagenslechers, wäre ja die Person, in deren
Seele wir das Medium „lesen" lassen, gestorben. Und wir kümmern uns um den
Spiritismus zunächst noch nicht.
Ich bekenne also ganz offen, daß es mir unmöglich ist, für die Psycho-
metrie auf dem Boden, auf dem wir uns jetzt bewegen, eine Erklärung zu
bieten. Hellsehen ohne Psychometrie könnte wenigstens zu einer gewissen philosophischen
Lehre, nämlich derjenigen von Leibniz, in Beziehung gesetzt werden,
wenn auch in einer recht unbestimmten Weise. Aber die Rolle des Gegenstandes
, des leblosen Gegenstandes bei der Psychometrie, ist das große Rätsel
für uns. Wenn wir diese Rolle als eine direkte ansehen, dann muß etwas „an"
dem Gegenstande sein, was wir absolut nicht \erstehen können, und wenn wir den
Gegenstand als ein bloßes Mittel ansehen, dazu bestimmt, die Seele des Mediums
mit einer anderen Seele zu verknüpfen, dann kommt das schließlich auf dasselbe
hinaus. Ganz abgesehen davon, daß viele dieser fremden Seelen ja nicht
mehr leben. Nun könnte man sagen, der bloße Umstand, daß der Gegenstand
gesehen oder berührt wird vom Medium, ermögliche es diesem mit einer anderen
Seele in Verbindung zu treten; aber auch dann tritt die Frage auf, wie es
kommt, daß gerade dieser Gegenstand diese Rolle spielen kann. Wiederum
müßte etwas „an" ihm sein, was wir nicht verstehen.
Ich sage schließlich noch ein Wort über die Unmöglichkeit einer Strahlungstheorie
in Beziehung zum Hellsehen im allgemeinen. Daß eine solche
Theorie angesichts des Gedankenlesens und der Telepathie unmöglich ist, habe
ich schon in meiner Londoner Rede gezeigt und auch oben kurz erwähnt. Diese
Lehre, welche harmonisch abgestimmte Stimmgabeln als Analogie verwendet, ist
hier unmöglich, erstens, weil sie auf dem Boden der unmöglichen Lehre vom
sogenannten psychomechanischen Parallelismus steht, und zweitens, weil sie
annehmen muß, daß die bewußten Erlebnisse des Senders und des Empfängers
ganz und gar dieselben seien, was sicherlich nicht der Fall ist. Auf dem Gebiete
des Hellsehens ist nun die Strahlungslehre sicherlich dann ganz unmöglich, wenn
es sich um das Lesen eines zusammengefalteten Briefes handelt. Der Empfänger
kennt hier den Sinn des Briefes, aber nicht sein optisches Bild, welches ja,
wenn der Brief gefaltet ist, außerordentlich kompliziert und verworren ist.
Andere Schwierigkeiten der Strahlungstheorie sind von Tischner vortrefflich
erörtert worden. Und nun würde diese Theorie zur Erklärung der
Psychometrie nicht einmal genügen.
Hellsehen in das Bereich des Mikroskopischen, wie Wasielewski es
studiert hat, könnte vielleicht durch eine gewisse Ueberempfindlichkeit erklärt
werden; doch gehe ich auf diesen Punkt nicht näher ein.
6. Vorahnung oder Prophetie ist sehr schwer verständlich, denn
wenn wir uns begnügen zu sagen, daß die Zeit nur eine Form der menschlichen
Erfahrung ist, und daß das, was uns in der Zeit erscheint, „an sich" zeitlos ist,
so ist das nur ein Spiel mit Worten. In gewissen Fällen mag es sich ja darum
handeln, daß das Mediulm Wünsche und Absichten eines Menschen durch
Gedankenlesen, vielleicht in dessen Unterbewußtsein, kennenlernt. Aber diese
Annahme ist natürlich nur selten möglich und fällt für von außen kommende
Ereignisse ganz fort. Gelegentlich mag es sich um Hellsehen handeln: Das
Medium sagt, jemand „werde" kommen, weil es ihn schon auf der Straße
„gesehen" hat Aber die große Mehrzahl von Vorahnungen, ihre Tatsächlichkeit
zugestanden, scheint mir nicht auf andere übernormale Geschehnisse zurück-
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